Die Auflösung traditioneller Bindungen an Familie und sozial-moralische Milieus hat in der modernen Gesellschaft dazu geführt, daß die individuelle Verortung im sozialen Raum unter den Bedingungen von zunehmenden Wahlfreiheiten und kulturellem Pluralismus erfolgt. Das wirft aber zugleich die Frage auf, wie Menschen damit umgehen, wenn Sicherheit und Orientierung, wie sie durch kollektive Gruppenzugehörigkeiten bisher vorgegeben waren, zunehmend verloren gehen und Vereinzelung sich durchsetzt, eine Frage, wie sie vor allem Gegenstand der 'Individualisierungsthese' von Ulrich Beck ist. Denn die Erfahrungen, mit denen wir in den letzten Jahren vermehrt konfrontiert werden, lassen Skepsis gegenüber allzu harmonistischen Deutungen der gesellschaftlichen Modernisierung aufkommen. So erlangen derzeit nicht nur in Deutschland nationalistische und offen rassistische Überzeugungen immer größer werdende - auch massenpublizistische - Beachtung. Letztlich geht es um den Versuch, den Verlust traditionaler Vergemeinschaftungsformen durch Alternativen zu kompensieren und neue Sicherheiten zu schaffen - selbst auf Kosten anderer. Gerade vor diesem Hintergrund gewinnt das Thema Kollektive Identität besondere Bedeutung.
In seinem Eröffnungsbeitrag unternimmt Dieter Rucht den Versuch, die kollektive Identität sozialer Bewegungen in Anlehnung an das Triumvirat identité, opposition und totalité von Alain Touraine zu bestimmen. Es folgen Überlegungen zu Pathologiepotentialen und Verlustrisiken kollektiver Identität sozialer Bewegungen: Wann und warum scheitert kollektive Identitätsbildung? Was Rucht generell behandelt, sucht Oliver Schmidtke am Beispiel der regionalen Identität der Lega Nord zu zeigen, wonach die Funktion kollektiver Identität (1) als Homogenisierung sozialer Beziehungen und (2) als Gewährung von Kontinuität zu verstehen ist. Zum anderen operiert Schmidtke mit einer Typologie kollektiver Identität, die er auf die Lega Nord anwendet. Veit Michael Bader geht es um ethnische Identität, einem gerade in jüngster Zeit nicht minder brisanten Fall von kollektiver Identität. Dazu entwickelt Bader einen Kriterienkatalog von 6 Punkten, der über die Definition der Differenz von zugehörig und nicht-zugehörig bis zur komplexen Wechselwirkung der Selbst- und Fremddefinitionen kollektiver Identität reicht und die allgemeine Bestimmung kollektiver Identität intendiert.
Bernd Simon beschäftigt sich mit dem Verhältnis von Person und Gruppe. Dazu greift er auf Bestrebungen der experimentellen Sozialpsychologie zurück, der es um die Bedingungen des Transformationsprozesses vom Individuum zur Gruppe geht, was er speziell am Falle schwuler Männer vorführt. Ulrich Wagner und Andreas Zick vertreten in ihrer Arbeit den social identity approach, der sich bei der Diskussion um die kollektive Identität sozialer Bewegungen auf die These stützt, daß Identitätsbildung mit Gruppenvergleich zu tun hat, einerlei, ob es sich um rassistisch, ethnisch oder religiös motivierte Identitätsbildung handelt.
Kai-Uwe Hellmann nimmt in seinem Beitrag die klassische Unterscheidung von 'Klasse an sich' und 'Klasse für sich' wieder auf und beschreibt soziale Bewegungen als die kollektive Identität der ihnen jeweils zugrunde liegenden sozialen Basen. Als Beispiel dienen die neuen sozialen Bewegungen, als Basis das Selbstverwirklichungsmilieu im Rahmen des Milieumodells von Gerhard Schulze. In unserer Rubrik haben wir zwei Vorträge aufgenommen, die von Wolf-Dieter Narr und Ruud Koopmans anläßlich des 10-jährigen Bestehens des Arbeitskreises 'Soziale Bewegungen' auf dem Potsdamer Politologentag im August 1994 gehalten wurden.