Anläßlich seines 10jährigen Bestehens widmet das Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen ein Jubiläumsheft der Bilanz der neuen sozialen Bewegungen in Deutschland. In dem Heft werden gesellschaftliche, demokratietheoretische und politikwissenschaftliche Bewertungen vorgenommen, prominente Einzelbewegungen hintergründig analysiert (Frauenbewegung, Friedensbewegung, Ökologiebewegung, Alternativbewegung) und ein Überblick über die wissenschaftliche Diskussion in der Bewegungsforschung gegeben.
Stabilisierende Milieuverankerungen, der erfolgreiche Aufbau sozialer wie politischer Infrastrukturen, Ausdifferenzierung, Organisationsbildungen und Professionalisierungsprozesse haben Beobachter veranlaßt, von der Institutionalisierung eines Bewegungssektors in Deutschland zu sprechen. Politische Proteste haben mittlerweile längst den Ruch des 'unkonventionellen' abgestreift. In beinahe allen Politikbereichen gehören sie heute zum Standardrepertoire bürgerschaftlichen Engagements.
Dabei ist der Bewegungssektor heute mit eigenen Problemen politischer Stellvertretung konfrontiert, die nicht zu den basisdemokratischen Idealen der meisten Beteiligten zu passen scheinen: Das Beispiel Greenpeace zeigt, daß mittlerweile auch von einer 'expandierenden Protestindustrie' gesprochen werden kann.
Dieter Rucht diskutiert in seinem Essay die Rolle sozialer Bewegungen in modernen Gesellschaften vor dem Hintergrund der These von der 'Bewegungsgesellschaft'. Ihre Funktion besteht demzufolge in der reformorientierten, korrigierenden und dauerhaften Einmischung in die institutionalisierte Politik.
Demokratie, so die Bilanz von Roland Roth, kann als das zentrale Thema der neuen sozialen Bewegungen gewertet werden. Soziale Bewegungen artikulieren Forderungen und Maßstäbe für eine neue Demokratisierungsrunde angesichts von Gefährdungen, Grenzen und Unzulänglichkeiten des westlich-liberalen Projektes der Demokratie.
Joachim Raschke beleuchtet in einem historisch-analytischen Rückblick die Jahre 1966, 1968 und 1982, in denen in der alten Bundesrepublik Regierungswechsel stattgefunden haben und versucht vor diesem Hintergrund die Frage zu beantworten, ob soziale Bewegungen im Wahljahr 1998 dazu beitragen können, Blockaden des politischen Systems in der Bundesrepublik und den Stillstand der Politik zu beheben.
Karl-Werner Brand vergleicht in seinem Beitrag das Verhältnis der europäischen Bewegungsforschung zu den 'Neuen Sozialen Bewegungen' (NSB) der 60er, 70er und 80er Jahre, zu denen im Kern die Friedens-, die Anti-AKW-, die Umwelt-, die Dritte-Welt-, die Selbsthilfe-, die Alternativ- und die Frauenbewegung gezählt werden. Myra Marx Ferree und Silke Roth beschäftigen sich in ihrem Beitrag mit der Frage, wie die amerikanische Bewegungsforschung auf den NSB-Ansatz aus Europa reagiert und welche Kritik sie daran hat.
Detlef Pollack und Helmut Fehr geht es in ihren Beiträgen um eine kritische Einschätzung des bisherigen Forschungsstandes zu den Bürgerbewegungen der ehemaligen DDR. Dabei konzentrieren sich beide Autoren auf die Frage nach dem Stellenwert von Ideen für das Selbstverständnis und die Stabilität dieser Bewegungen. Bei der Analyse der Bürgerbewegungen, so ein Fazit, ist der Vergleich mit osteuropäischen Bewegungen angemessener, als ein Vergleich mit westdeutschen Bewegungen, da dort die Gemeinsamkeiten aufgrund ähnlicher 'Chancenstrukturen' höher sind.
Regina Dackweiler und Reinhild Schäfer untersuchen die Entwicklung der neuen Frauenbewegung der Bundesrepublik im Rahmen der internationalen Zusammenarbeit von Frauenbewegungen. Die Internationalität der Frauenbewegungen stellt den Autorinnen zufolge einen entscheidenden bewegungsmobilisierenden Faktor dar.
Andreas Buro untersucht Transformationen, Bilanzen und Perspektiven der bundesdeutschen Friedensbewegung. In einem Überblick zeichnet er die Mobilisierungszyklen, die inhaltlichen Veränderungen und institutionellen Brüche der Friedensbewegung seit den 50er Jahren nach. Buro diagnostiziert für die bundesdeutsche Friedensbewegung einen hohen Professionalisierungsgrad bei jedoch geringer Mobilisierbarkeit der Basis. Die Kampagne 'Bundesrepublik ohne Armee' wird in den 90er Jahren zum Fokus der gemeinsamen Anstrengungen um eine internationale zivile Friedensordnung und mehr Demokratie.
Wolfgang Ehmke zieht in seinem Beitrag eine Wirkungsbilanz der Ökologiebewegung. Als einen herausragenden Erfolg dieser Bewegung wertet er einen allgemeinen Bewußtseinswandel: Ökologisches Wissen ist zum Allgemeinwissen geworden und hat alle gesellschaftlichen Bereiche durchdrungen, so der Autor.
Die Entwicklung der Alternativbewegung in Deutschland hat Walter Hollstein zum Thema. Das äußerst heterogene Feld der Alternativbewegung kennzeichnet demnach die Ablehnung des Gegebenen, die Forderung nach neuen Werten und Verhaltensweisen sowie der Wunsch nach einem eigenen Lebensrahmen in einer 'Gegengesellschaft'.