1998 hat das Forschungsjournal NSB eine Bilanz sozialer Bewegungen für das 20. Jahrhundert vorgelegt. Jetzt wagen wir im ersten Heft 2000 Prognosen über künftige Entwicklungen von politischem Protest und diskutieren Perspektiven sozialer Bewegungen im 21. Jahrhundert. Die Redaktion des Forschungsjournals hat Expertinnen und Experten aus Wissenschaft, Journalismus, Politik und Bewegungszusammenhängen um politische und persönliche Einschätzungen gebeten. Die Ergebnisse, gewonnen und entwickelt nach der Delphi-Methode, zeichnen kein eindeutiges Bild. Vielmehr ergeben sie ein farbiges Mosaik über Entwicklungschancen und veränderte Handlungsmöglichkeiten sozialer Bewegungen in einer sich rapide verändernden Welt. Alle Befragten stimmen darin überein, dass bewegungsförmige Proteste nach ihren Hochzeiten der Massenmobilisierung in den 80er Jahren des zurrückliegenden Jahrhunderts auch zukünftig eine Rolle spielen werden. Ob sie, wie es der Sozialwissenschftler Dieter Rink vermutet, „in den nächsten ein bis zwei Jahrzehnten einen neuerlichen, grandiosen Aufschwung erleben" werden, bleibt abzuwarten. Doch wird die Bewegungslandschaft organisatorisch uneinheitlicher und differenzierter. Anstelle bewegungsförmiger Massenmobilisierung ist mit einer steigenden Professionalisierung, Organisierung, Netzwerkbildung sowie massenmedialen und symbolischen Aktionsformen zu rechnen. Viele Beiträge unterstreichen die Bedeutung der Nicht-Regierungsorganisationen. Einige Autoren erwarten ihre zunehmende Abkoppelung von dem Bewegungssektor der Gesellschaft. „Neben der professionellen Lobbytätigkeit", prognostiziert Harald Gesterkamp von amnesty international, „wird in den kommenden Jahren (vor allem) die Bedeutung der Medienpräsenz für nichtstaatliche Organisationen zunehmen". Für die westlichen Demokratien wird eine Veränderung in den Motivationsstrukturen der Akteure in sozialen Bewegungen erwartet. Außerdem, so das Gros der AutorInnen, werden Motive des Engagements für soziale Bewegeungen in einem Bereich jenseits von Staat und Markt verortet. Soziale Proteste sind, so spitzt der Journalist Gero v. Randow zu, „Innovationen jenseits von Staat und Markt, irritieren die gesetzte Ordnung und sind gewissermassen ein Lebenszeichen der Bürger". Teilnahme und Protest bekommen insbesondere unter Jugendlichen einen anderen Charakter. Entideologisierte, an individueller Betroffenheit orientierte Beteiligungsmotive, kurzfristiges, punktuelles Engagement spielen künftig eine hervorgehoben Rolle. Schließlich unterliegen die Protestanlässe, folgen wir den Experteneinschätzungen, Veränderungen: Regionale, nationale und transnationale Problemlagen bestimmen die Tagesordnung. Konsequenz: Auch der Bewegungssektor ist konfrontiert mit den Anforderungen einer Verknüpfung lokaler, regionaler, nationaler und transnationaler Ebenen.