Das Gesundheitssystem ist durch die Mitwirkung zahlreicher Akteure gekennzeichnet und in seiner Komplexität kaum zu überschauen. Zu den Akteuren zählen nicht nur ÄrztInnen und PatientInnen, sondern auch die Pharmaindustrie, die Apotheken, die Kammern und Kassenärztlichen Vereinigungen, die Krankenkassen, Selbsthilfegruppen und Verbraucherorganisationen sowie die Weltgesundheitsorganisation und die EU.
In der dominierenden öffentlichen Wahrnehmung der Probleme im Gesundheitssystem scheinen die Fronten der Debatte klar zu sein: Geht es auf der einen Seite um Möglichkeiten, die enormen Kosten des Gesundheitswesens über Privatisierungsstrategien zu externalisieren (‚mehr Markt'), verteidigt die andere Seite den solidarischen Sozialstaat (‚mehr Staat').
Diese Engführung der Debatte verdankt sich den eindrucksvollen wirtschaftlichen Dimensionen des Gesundheitswesens: Die Ausgaben für das deutsche Gesundheitswesen betragen nach neuesten Angaben des Statistischen Bundesamtes (für das Jahr 2000) 218, 4 Mrd. Euro und damit 10,7 Prozent des Bruttoinlandproduktes. 124,4 Mrd. Euro (57 Prozent) entfallen davon auf die gesetzliche Krankenversicherung, auf die private Krankenversicherung 17,9 Mrd. Euro.
4,1 Millionen Beschäftige sind im Gesundheitswesen tätig, davon 71 Prozent Frauen. Die Gesundheitsdienstberufe repräsentierten mit 2,1 Millionen Beschäftigten im Jahr 2000 die größte Berufsgruppe im Gesundheitswesen. Neben Ärztinnen und Ärzten zählen u.a. auch Krankenschwestern und Krankenpfleger, Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten sowie medizinisch-technische Assistentinnen und Assistenten zu den Gesundheitsdienstberufen. Einen sozialen Beruf wie Altenpflegerin und Altenpfleger, Heilerziehungspflegerin und Heilerziehungspfleger oder Heilpädagogin und Heilpädagoge übten etwa 6 Prozent der Beschäftigten im Gesundheitswesen aus (259 000 Personen). Weitere 224 000 Personen waren im Gesundheitshandwerk oder in sonstigen Gesundheitsfachberufen tätig.
Doch die Zuspitzung auf ‚mehr Staat' vs. ‚mehr Markt' verdeckt eine dritte Reformoption: die Möglichkeiten, die auf die Stärkung von Partizipation, Mitgestaltung und Koproduktion in sozialen Diensten und Einrichtungen seitens der Bürgerinnen und Bürger setzen. ‚Bürokratisierung', ‚Verrechtlichung' und ‚sozialstaatlicher Paternalismus', der den Bürger immer mehr in die Rolle des ‚Klienten' gedrängt hat, sind dabei zentrale Stichworte. Auf sie reagieren Konzepte wie ‚Wohlfahrtsmix', ‚Wohlfahrtsgesellschaft' und ‚Wohlfahrtspluralismus', die sich mit den Kernbereichen der Systeme sozialer Sicherung auseinandersetzen.
Veränderte Leitbilder des Sozialstaates reagieren auf diese Kritik: Im Koalitionsvertrag der rot-grünen Bundesregierung findet sich der Begriff des ‚aktivierenden Staates'. Die Enquete-Kommission ‚Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements' verwendet v.a. den Begriff des ‚ermöglichenden Staates'(Enquete-Kommission 2002). Der ‚ermöglichende' und ‚aktivierende' Staat ist dem Verdacht ausgesetzt, es handele sich bloß um eine Rhetorik, die den Rückzug des Sozialstaates kaschieren soll. Doch Ermöglichung und Aktivierung erfordern nicht den Abbau, sondern den Umbau des Sozialstaates! Der Auftrag des Sozialstaates, bestehende Gerechtigkeitslücken auszugleichen, bleibt unverzichtbar. Das bürgerschaftliche Engagement eignet sich nicht als Ausfallbürge und Lückenbüßer.
Der Vorsitzende des Sachverständigenrates zur konzertierten Aktion im Gesundheitswesen hat für eine Reform des Gesundheitswesens die Stoßrichtung deutlich gemacht: "Das deutsche Gesundheitswesen leistet aufgrund verschiedener qualitativer und struktureller Defizite nicht das, was es angesichts des finanziellen , technischen und personalen Ressourceneinsatzes leisten könnte. ...Der Patient muss zum zentralen gesundheitspolitischen Leitbild werden." (Prof. Schwarz, Rede zum Hauptstadtkongress 2002)
Kritische Beobachter halten das Gesundheitssystem mittlerweile für kaum noch reformierbar. Zu ausgeprägt erscheinen ihnen die institutionellen Blockaden einer korporatistischen Vernetzung der Interessengruppen im System der Interessenregulierung. Zusätzliche Hemmnisse sind die Komplexität des Gesundheitswesens und die vorhandene Interessensheterogenität der Akteure. Die im System vorhandene Intransparenz beinhaltet auch die ständige Gefahr von Korruption.
Jeder Strukturwandel ist freilich zeitbedürftig und schwierig. Im Interesse der Patienten und Versicherten ist der Prozess des Strukturwandels zu beschleunigen. In Deutschland beherrschen zwei Pole die Selbstverwaltung des Gesundheitswesens: die Organisationen der Ärzteschaft und der gesetzlichen Krankenversicherungen. Sie steuern im Verhandlungswege Qualität, Art und Umfang der Versorgungsleistungen im Gesundheitssystem. Demgegenüber ist die Umorientierung auf einen dreipoligen kooperativen Kommunikationsprozess, in dem die Patienten, Versicherten und Bürger in rechtlich verfassten Institutionen des Gesundheits- und Medizinsystems zum gleichberechtigten Kommunikationspartner werden, in der Diskussion (Hart 2001: 81 und 89; Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung 2000: 233).
Die Möglichkeiten einer auf Demokratie und Mitgestaltung der Bürger, Patienten und Versicherten setzenden Reformstrategie müssen differenziert werden (zum Folgenden Sachverständigenrat 2001: 166ff.): Auf der Mikroebene ist eine Verbesserung der Arzt-Patienten-Beziehungen, die Beseitigung von Kommunikations- und Informationsdefiziten (etwa in Großkrankenhäusern) mittels der flächendeckenden Einführung unabhängiger Patientenfürsprecher bzw. -ansprechpartner oder auch die Vertretung von Patientenvertretern in Schlichtungsstellen für Arzthaftpflichtfragen anzustreben. Auf der Mesoebene müssen unabhängige Bürger-, Nutzer- oder Patientenvertreter einbezogen werden in Entscheidungsgremien der Krankenhausträger, in die berufsständischen Kammern, in die Körperschaften der vertragsärztlichen Selbstverwaltung im Gesundheitswesen. Ihre Mitwirkung in regionalen Gesundheitskonferenzen hat sich bereits, v.a. bei komplexen Strukturveränderungen in der Versorgung oder bei Bedarf an regionaler Vernetzung bewährt (dazu der Beitrag von Weihrauch in diesem Heft).
Auf der Makroebene geht es um den Einbezug der Bürger-, Nutzer- oder Patientenvertreter an den Abstimmungsprozessen der Spitzenverbände bzw. von Gremien der gemeinsamen Selbstverwaltung (Bundesausschuss Ärzte und Krankenkassen, aber auch Medizinische Dienste, z.B. bei Verfahren der Pflegeeinstufung), um die Entwicklung von allgemeinen bundesweiten Patientenvertretungen, die an den Tätigkeiten von Selbsthilfebewegung und Verbraucherverbänden anknüpfen können (siehe die Beiträge von Matzat und Kranich in diesem Heft). Patientenrechte könnten in einer verbindlichen Patienten-Charta ausgebaut werden.
Die Beteiligung von BürgerInnen, Versicherten und PatientInnen kann Fehlentwicklungen im Gesundheitssystem korrigieren (v.a. die bestehende Anbieterdominanz des ärztlichen Berufsstandes, Managementprobleme im medizinischen Ablaufsystem). Sie bietet Chancen für Organisationen und Einrichtungen im Gesundheitswesen, um Gesundheitsbedürfnisse, Präferenzen und Qualitätsmaßstäbe der Bevölkerung besser zu berücksichtigen. Zudem erhöht sie die Akzeptanz von Gesundheitszielsetzungen und von Gestaltungsentscheidungen in der Bevölkerung (Sachverständigenrat 2001: 162).
Die positiven Wirkungen der Partizipation demonstriert das Beispiel der Frauengesundheitsbewegung. Sie hat für die Gesundheitspolitik bewirkt, dass Gesundheitsbedürfnisse von Frauen stärker aufgegriffen werden (siehe den Beitrag von Kolip in diesem Heft). Die bei der Behandlung von Brustkrebs offenkundig gewordenen Skandale machen deutlich, wie überfällig eine solche Neuorientierung war. Das Bemühen um eine bessere Gesundheitsversorgung für Frauen hat positive Auswirkungen für die Gesundheitsversorgung insgesamt.
Verbesserte Informationen, Mitwirkungsrechte und die Dezentralisierung von Entscheidungskompetenzen können die Bürgerinnen und Bürger befähigen, an der Qualitätsentwicklung im Gesundheitswesen stärker mitzuwirken. Während in Deutschland individuelle Patientenrechte verhältnismäßig stark entwickelt sind, besteht ein offenkundiges Defizit kollektiver Patientenrechte auf der Ebene von Medizin- und Gesundheitssystementscheidungen. Hier gibt es erheblichen Fortentwicklungsbedarf, der anknüpfen kann an dem von der deutschen Gesundheitsministerkonferenz 1999 autorisierten Dokument ‚Patientenrechte in Deutschland heute'.
Anzustreben ist ein breiter Diskussionsprozess mit dem Ziel einer Patienten-Charta. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die öffentliche Diskussion über eine solche Charta bereits erhebliche Lerneffekte mit sich bringt. Neben Kassen als zentralen Vertretungen von Versicherteninteressen gibt es in Deutschland zwar Patientenorganisationen und Selbsthilfegruppen sowie Vertretungen der Berufsgruppen im Gesundheitssystem, doch fehlt eine breit verwurzelte allgemeine Patientenbewegung (siehe den Beitrag von Stüssgen u.a. in diesem Heft).
Partizipation ist immer auch als ein Prozess zu sehen, in dem durch die Nutzung von Partizipationschancen zugleich neue Kompetenzen zur Mitentscheidung erworben werden. Zentrale Begriffe sind in diesem Zusammenhang Autonomie, Wahlfreiheit, Kompetenz, Transparenz, Information, Eigenverantwortung und Selbststeuerung, finanzielle Beteiligung.
Die Redaktion versammelt in diesem Themenheft ein breites Spektrum von Positionen, Problembeschreibungen, Akteurssichten und Lösungsvorschlägen, die in Bürgerorientierung und Demokratisierung einen zentralen Ausgangspunkt der Reform des Gesundheitswesens sehen. Die Beiträge der AutorInnen analysieren strukturelle, institutionelle und organisatorische Rahmenbedingungen und Entwicklungen des Gesundheitssystems als Ermöglichungs-, aber auch Verhinderungsstrukturen für mehr Partizipation und Mitgestaltung im Gesundheitswesen. Sie beleuchten das Verhältnis von Wettbewerb und Demokratisierung, von Partizipation und Kundenorientierung und die verschiedenen Rollen von Kunde, Bürger, Versichertem und Patienten.
Zu den Diskussionsschwerpunkten des Heftes zählen die Möglichkeiten der Reform des korporatistisch ´vermachteten´ Systems der Selbstverwaltung, Überlegungen zu einer Stärkung der Mitwirkungsrechte von Patienten und Versicherten und einer Abkehr von ihrer paternalistischen Bevormundung, Optionen einer Verbesserung der Qualität von Gesundheitsleistungen, die Kritik am unausgewogenen Verhältnis von Anbietermacht und Verbraucherschutz und die Möglichkeiten unabhängiger Patientenberatung und -unterstützung, aber auch die Kritik an fehlenden Informationen, mangelnder Transparenz und Ineffizienz des Gesundheitswesens und der Unbeweglichkeit und fehlenden Gestaltungsbereitschaft der organisierten Ärzteschaft.
Die Enquete-Kommission ‚Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements' hat im Juni dem Deutschen Bundestag ihren Bericht vorgelegt. Mit den Überlegungen der Kommission zu Demokratie und Bürgerorientierung als Reformkomponente im Gesundheitswesen wird das Heft eingeleitet. Es folgen die Positionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen, die derzeitig für Gesundheitspolitik verantwortlich sind. Die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di will in diesem Jahr (ähnlich wie attac) das Konfliktthema Gesundheit mit einer Gesundheitskampagne politisieren.
Wissenschaft und Politikberatung sind im Gesundheitswesen fest installierte und einflussreiche Mitgestalter von Politikentwürfen. Die Redaktion hat daher ein Kondensat aktueller Überlegungen aus diesem Feld zum Einfluss von Bürgern, Versicherten und Patienten im Gesundheitswesen zusammengestellt.
Es folgen Akteursperspektiven und Kritiken aus der Praxis: Dargestellt werden die reformpolitischen Positionen der gesetzlichen Krankenkassen, die Bedeutung alternativer Strömungen in der gesundheitlichen Versorgung, die oppositionellen Strömungen in der Ärzteschaft, die Erfahrungen von Verbraucherzentralen und die Rolle der Selbsthilfebewegung im Gesundheitsbereich. Transparency International kritisiert Blockaden, Korruption und Intransparenz im deutschen Gesundheitssystem.
In unserer Rubrik ‚Pulsschlag' werden die Erfahrungen, Strukturen und Lernprozesse des Gesunde Städte-Netzwerkes, der Gesundheitskonferenzen in Nordrhein-Westfalen und der Frauengesundheitsbewegung dargestellt. Dort findet sich auch eine Darstellung der Gesundheitskampagne von ‚attac'.
Den ‚Blick über die Grenzen' werfen wir auf die rechtlichen Grundlagen von Patientenpartizipation in Europa, auf die einflussreiche Patientenbewegung in den Niederlanden und das amerikanische Gesundheitssystem, das immer wieder in aktuellen Debatten als Vergleich herangezogen wird.
Im Rezensionsteil gibt es u.a. eine ausführliche Sammelrezension zu neuerer Literatur an, die sich mit Fragen der Beteiligung von Versicherten und Patienten auseinandersetzt.
Kein Zweifel: Besonders in der Gesundheitspolitik ist eine zunehmende Unbeweglichkeit der Akteure mit Händen zu greifen. Das Gesundheitssystem ist in besonderem Maße geprägt durch den Machtkampf starker Interessengruppen. Um Licht ins Dunkel der Interessenfelder zu bringen, hat sich die Redaktion bemüht, Akteure und Konfliktfelder zu sortieren, ihren Interessenhintergrund transparent zu machen und damit zu einer sinnvollen Politikgestaltung aufzufordern. Der notwendige Prozess des Umdenkens soll mit diesem Heft Impulse erhalten.
Ansgar Klein, Berlin, Christoph Rupprecht, Düsseldorf, Thomas Leif, Wiesbaden.
Literatur
- Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (Hg.) 2000: Bürgerbeteiligung im Gesundheitswesen - eine länderübergreifende Herausforderung, Köln.
- Enquete-Kommission ‚Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements'/Deutscher Bundestag (Hg.) 2002: Bürgerschaftliches Engagement: auf dem Weg in eine zukunftsfähige Bürgergesellschaft, Opladen: Leske+Budrich und Berlin: Drucksache 14/8900.
- Hart, Dieter 2001: Bürgerbeteiligung im Gesundheitswesen. Professionelle Entscheidungskompetenzen und strukturelle Veränderungen, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie, Jg.22, Heft 1, 79-100.
- Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen 2001: Gutachten 2000/2001, Bundestagsdrucksache 14/5660, Bd. 1: Zielbildung, Prävention, Nutzerorientierung und Partizipation.