Die gegenwärtige Reformdebatte verläuft typisch für die bundesrepublikanische Politik: Kaum wird ein Vorschlag gemacht, schon macht sich die Schar der Lobbyisten daran, den Vorschlag weichzuspülen. Übrig bleibt am Ende ein Gesetz, das Handlungsfähigkeit vortäuscht, aber ansonsten alles beim Alten belässt. Ob im Gesundheitsbereich oder im Bereich der Arbeitsmarktgesetzgebung, die Beobachtungen lassen sich mit einem Satz beschreiben: Der Staat ist fest im Griff der Verbände und Lobbyisten.
Diese sind sehr gut gerüstet, wenn es darum geht, die Besitzstände ihrer Mitglieder zu verteidigen. Sie agieren mittlerweile hochprofessionell und die Kontakte in die Ministerien und in das Parlament sind bestens. Zudem sind die Ministerien und Ausschüsse bei der komplizierten Gesetzesmaterie auf das Expertenwissen der Lobbyisten angewiesen. So findet sich der Staat eingebunden in ein Netzwerk von Akteuren, die alle ihre eigenen Ziele verfolgen und der Blick auf das Ganze fehlt.
Dem Staat droht dadurch die Handlungsunfähigkeit, die er freilich selbst mit herbeigeführt hat. Immer mehr Entscheidungen wurden in den letzten Jahren in Konsensrunden ausgelagert, in welche die Verbände ihre Vertreter schicken konnten. Das prominenteste Beispiel dafür ist das Bündnis für Arbeit, das Schröder mit viel Hoffnung zu Beginn seiner ersten Kanzlerschaft ins Leben gerufen hat. Heute, nach dem Scheitern des Bündnisses, ist viel Zeit verstrichen und bei den Akteuren die Einsicht gewachsen, dass die korporatistischen Formen aus den 1970er Jahren sich überlebt haben.
Die Klage über die Macht der Verbände ist allerdings nicht neu. Theodor Eschenburg hat bereits 1955 unter dem Titel "Herrschaft der Verbände?" (1955) die Übermacht der Verbände in der Bundesrepublik beklagt. Eine andere Variante der Kritik bezieht sich auf die Parteien, denen vorgeworfen wird, die Anliegen der Allgemeinheit aus dem Blick zu verlieren.
Gegen die Herrschaft der Partikularinteressen wird immer wieder das Gemeinwohl in Stellung gebracht. Dieses Gemeinwohl ist zwar das normative Ideal politischen Handelns, doch inhaltlich wurde es in allen modernen Gesellschaften prozeduralisiert. So einleuchtend die Unterscheidung zwischen Gemeinwohl und Privatinteressen auf den ersten Blick ist, so sicher ist auch, dass inhaltlich das Gemeinwohl erst als Resultat politischer Prozesse erkennbar wird.
Aus dieser These von Ernst Fraenkel aus den 1960er Jahren folgt, dass die Artikulation von Privatinteressen legitimes demokratisches Gestaltungsmittel ist. Der Pluralismus hat den Grundstein dafür gelegt, dass Lobbying als Interessenvertretung demokratischen Charakter bekam. In der amerikanischen und britischen Tradition hat Lobbying nichts anrüchiges und auch in Deutschland hat sich der Begriff Lobbying durchgesetzt, wenn auch noch mit leicht anrüchiger Konnotation.
Andererseits verweist der Perspektivenwechsel vom Korporatismus zum Lobbyismus auf fundamentale Veränderungen. Politik wird nicht mehr allein zwischen Arbeit und Kapital ausgehandelt, sondern die neuen sozialen Bewegungen haben neue Politikthemen etabliert und vertreten diese nun nicht mehr allein ‚auf der Straße', sondern auch in den Vorhallen, den Lobbys, der Politik. Das Feld der Interessenvertreter ist vielfältiger und unübersichtlicher geworden. Gleichzeitig ist es zu einer Professionalisierung der Lobbyisten gekommen. Nicht nur die traditionellen Verbänden arbeiten professionell an der Beratung und Beeinflussung von Politikern, sondern auch NGOs und Public Affairs-Büros, die für wechselnde Auftraggeber Kontakte herstellen und Lobbyismus betreiben.
Das Themenheft "Lobbyismus in Deutschland. Fünfte Gewalt - unkontrolliert und einflussreich" widmet sich diesen Veränderungen und seinen Folgen aus demokratietheoretischer Sicht. Wie funktioniert Lobbyismus heute? Welche Probleme entstehen daraus für die Demokratie? Welche Möglichkeiten der Demokratisierung von Lobbying gibt es? Dies sind die Leitfragen, die sich im Januar die Teilnehmerinnen und Teilnehmer einer Tagung stellten, die das Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen zusammen mit der Heinrich Böll Stiftung und der Bundeszentrale für politische Bildung durchführte. Hier wurden Wissenschaftler und Praktiker zusammen gebracht, um ihre Konzepte und Perspektiven gegenüberzustellen und den Problemen für die Demokratie nachzugehen. Die Ergebnisse dieser Tagung werden in dem vorliegenden Heft dokumentiert.
Die Beiträge des Heftes beleuchten das Feld der Interessenvertretung aus verschiedenen Blickwinkeln. Rudolf Speth und Thomas Leif diskutieren aus einer stärker politischen Perspektive die Grundprobleme von Lobbyismus, während Thomas von Winter den wissenschaftlichen Literaturstand aufarbeitet. Mit dem praktischen Lobbyismus in Deutschland beschäftigen sich Praktiker aus unterschiedlichen Kontexten: Ralf Fücks war vier Jahre Senator in Bremen; Karl Lauterbach berät die Bundesregierung in gesundheitspolitischen Fragen, zuletzt als Mitglied der Rürup-Kommission; Reinhold Kopp ist Leiter der Abteilung Regierungsbeziehungen bei der Volkswagen AG. Sie diskutieren aus jeweils völlig unterschiedlichen Positionen den Zusammenhang von Gemeinwohl und Interessenvertretung.
Die Arbeit der Public Affairs-Büros in Berlin wird aus der Innenperspektive betrachtet (Beiträge von Inge Maria Burgmer, Hartmut Bäumer und Kornelius Kleinlein). Von den Autorinnen und Autoren werden primär die Vorzüge dieser Büros herausgestellt, doch es wird auch deutlich, auf welche Weise Politiker ‚bearbeitet' werden, um Einfluss auf Entscheidungen zu gewinnen.
Die Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs) betätigen sich heute ebenfalls als Lobbyisten, unterliegen aber erheblichen Beschränkungen. Gerade an ihrem Beispiel wird deutlich, wie problematisch eine prozedurale Definition von Gemeinwohl als Ergebnis von Interessenvertretung ist, werden doch bestimmte (vor allem ‚moralische') Interessen nur durch schwache Organisationen vertreten (Beiträge von Ulla Mikota und Steffen Beitz sowie Hansjörg Elshorst). Wenn nicht glaubhaft mit erheblicher Mobilisierung gedroht werden kann, müssen Umweltbelange, weltweite Gerechtigkeit oder andere Themen der neuen sozialen Bewegungen zurückstehen. So kann das Gemeinwohl schnell das Wohl der Starken werden. Die Gewerkschaften nehmen aufgrund ihrer Verankerung auch in den alten korporatistischen Strukturen eine Sonderrolle ein, doch auch sie sind zunehmend mit dem Erfordernis konfrontiert, sich im Feld des Lobbying neu zu positionieren. Der Beitrag von Hans-Joachim Schabedoth schlägt eine solche Positionierung vor.
Der Europäisierungsprozess macht auch für die politische Vertretung von Interessen eine Umorientierung erforderlich. Christian Lahusen beschreibt das Feld des Lobbyismus in Brüssel, während Claus Giering aus der Praxis der Lobbyingberatung auf EU-Ebene berichtet. Über aktuelle Forschungsarbeiten zu diesem Thema berichtet auch die Literaturrubrik. Der Frage, was aus den amerikanischen Erfahrungen gelernt werden kann, geht Martin Thunert nach.
Während Lobbyisten zunehmend offensiver die Legitimität ihrer Arbeit betonen und diese Position auch öffentlich machen, halten sich Politiker eher bedeckt. Von den spärlichen Ergebnissen einer Umfrage bei Bundesministerien berichtet Andreas Skowronek im Pulsschlag. Zu den Fragen des Umgangs von Politikern und Politikerinnen mit Lobbyismus plant das Forschungsjournal ein Themenheft im nächsten Jahr.
Das Feld des Lobbyismus ist unübersichtlicher geworden, für Praktiker, Wissenschaftler und politische Beobachter. Gleichzeitig dürfte der Einfluss von Lobbyismus auf die Politik erheblich sein, auch wenn generelle Einschätzungen über die Stärke des Einflusses problematisch bleiben (vgl. von Winter, in diesem Heft). Deshalb ist es nötig, einerseits Transparenz einzufordern und andererseits durch kritische Beobachtung und Reflexion Licht in das Dunkel des Lobbyismus zu bringen. Das vorliegende Heft ist ein Schritt in diese Richtung.
Rudolf Speth, Berlin, Jochen Roose, Leipzig und Anja Baukloh, Berlin.
Literatur
- Eschenburg, Theodor 1955. Herrschaft der Verbände? Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt.