Lange Zeit galt der Verein als antiquierte und nicht mehr zeitgemäße Organisationsform. Die Vorbehalte gegenüber dem Verein kommen auch in der Bezeichnung ‚Vereinsmeier' zum Ausdruck. Der Vereinsmeier ist derjenige, der sich in der kuscheligen Enge und Wärme seines Vereins wohl fühlt und die Welt drumherum nicht mehr wahrnimmt. Er ist eine Sonderform des Spießbürgers. In der Geringschätzung des Vereinsmeiertums verbirgt sich eine weit zurückreichende Erfahrung. Der Spießer war der Bürger, der nur mit Spießen bewaffnet Kriegsdienst leistete, der Bürger im Kleinformat, der sich kein Pferd leisten konnte. Der Spießbürger ist die Minusvariante des Bürgers. Er sieht sich in der Enge gefangen und liebt diese Enge auch. Die Enge, das behaglich Unpolitische und die Sehnsucht nach Selbstdarstellung charakterisiert ihn.
So findet man in der Beschränktheit und wohligen Welt des eigenen Vereins zusammen und pflegt seine geordneten Aktivitäten. Als ein typisches Beispiel für den ‚modernen' Vereinsmeier können heute die männlichen Vereinsvorsitzenden gelten, die schon seit 20 Jahren den Vorsitz innehaben, immer schon wissen, wie etwas gemacht wird und vor allem: gemacht werden muss, damit es auch klappt, ihre eigene Geschäftigkeit allerdings auch als Ausdruck von Modernität begreifen, obwohl sie sich nahezu ausschließlich an Traditionen und ‚Alt-Bewährtem' orientieren, und die Behaglichkeit des Vereinslebens kultivieren. Was für den einzelnen Vereinsvorsitzenden gilt, trifft nach landläufiger Meinung aber auch die Vereine insgesamt, sofern man überhaupt von den Vereinen ohne weitere Differenzierung sprechen darf: Sie sind immer noch sehr stark an der eigenen Binnenkultur fixiert und sind sich mit ihren Aufgaben und Mitgliedern selbst genug. Gleichwohl gibt es ernsthafte Modernisierungsbestrebungen in der Vereinslandschaft.
Die Welt der Vereine kann mit beeindruckenden Zahlen aufwarten. Nach Schätzungen gibt es etwa 350.000 bis 500.000 eingetragene Vereine und rund 500.000 nicht rechtsfähige Vereine. Die Vereine verzeichnen über 80 Mio. Mitgliedschaften, wobei hier Mehrfachmitgliedschaften mitgezählt sind. Eine beträchtliche Zahl der Bürgerinnen und Bürger ist in Vereinen organisiert. Die Zahlen basieren zum großen Teil auf Schätzung, weil es in Deutschland kein zentrales Vereinsregister gibt. Sie beruhen auf einer Auswertung der 600 Vereinsregister bei den Amtsgerichten, die allerdings nur reaktiv arbeiten. Die Zahlen sagen nichts über die realen Aktivitäten der Vereine aus. Es können sich auch zahlreiche inaktive Vereine darunter befinden. Von Helmut Anheier wird der Organisationsgrad in Deutschland mit 64 Prozent angegeben; Jürgen Baur und Sebastian Braun kommen in einer repräsentativen Bevölkerungsbefragung aus dem Jahr 2001 auf eine nahezu identische Quote; der Wohlfahrtssurvey von 1993 nennt hingegen 47 Prozent. Zum Vergleich: Für die USA werden ebenfalls 47 Prozent angegeben und für Frankreich 36 Prozent.
Diese Zahlen sind nicht zuletzt deshalb von Bedeutung, weil die Vereine ein zentrales Element für die Infrastruktur des Engagements sind. 43 Prozent des bürgerschaftliche Engagement wird im organisatorischen Rahmen eines Vereins ausgeübt (14 Prozent innerhalb von Kirchen und religiösen Vereinigungen, 13 Prozent in Selbsthilfegruppen und Projekten, 11 Prozent in staatlichen und kommunalen Einrichtungen etc.). Die Vereine sind daher nach wie vor die dominierende organisatorische Form des bürgerschaftlichen Engagements, auch wenn sich mit Selbsthilfegruppen, neuen sozialen Bewegungen, Bürgerinitiativen und ähnlichen Formen eine neue Form des weniger formalisierten Engagements etabliert hat.
Unter den Vereinen ist der Sportverein der zahlenmäßig wichtigste. 39,6 Prozent aller Vereine sind Sportvereine. Freizeitvereine haben einen Anteil von 17,4 Prozent, Wohlfahrtsvereine von 13,3 Prozent und Kulturvereine von 11,4 Prozent. Die Sozialwissenschaften und insbesondere die Politikwissenschaften haben die Vereine lange Zeit links liegen gelassen. Für sie zuständig ist die Verbändeforschung, doch widmete sie sich mehr oder minder nur den Verbänden, die zwar für die Interessenvertretung und Koordination der Vereine untereinander eine wichtige Rolle spielen, aber für das Engagement und die besonderen Funktionen der Vereine für die Demokratie und die Gesellschaft nicht ins Gewicht fallen[1]. Es gibt kaum überregionale Studien zu Vereinen. Die Zahl der relevanten Publikationen lässt sich mehr oder minder an einer Hand aufzählen.
Über die Sportvereine gibt es auch das breiteste Wissen. Die Sportwissenschaften und der Deutsche Sportbund haben ein besonderes Interesse daran, dass über die Sportvereinslandschaft gesichertes Wissen produziert wird. Der Sportbereich gehört mit 22 Prozent zum wichtigsten Bereich des gesellschaftlichen Engagements. In den rund 88.500 Vereinen engagieren sich 4,5 Mio. Mitglieder freiwillig für ihren Verein. Gerade im Sportbereich wird erkennbar, dass Verein nicht gleich Verein ist. 70 Prozent aller Vereine im Sportbereich sind Klein- und Kleinstvereine bis zu 300 Mitgliedern; und nur in 14 Prozent der Vereine gibt es hauptamtliche Mitarbeiter. Bei letzteren handelt es sich zumeist um große Vereine, die sich auch wirtschaftlich betätigen, keine homogene Mitgliedschaft mehr aufweisen und die auch ein breites und vielfältiges Sportangebot bereithalten. Obwohl sie zahlenmäßig eine Minderheit in der Sportvereinslandschaft darstellen, binden sie einen hohen Anteil aller Sportvereinsmitglieder in Deutschland. In solchen Vereinen scheint nicht zuletzt der Wille zu wachsen, mit privaten Sportanbietern zu konkurrieren und spezielle Angebote für die zahlungskräftige Mittelschicht bereitzustellen. Inwieweit diesen Vereinen, die in der öffentlichen Diskussion gemeinhin als die Modernisierer der Sportvereinslandschaft gelten, tatsächlich diese Rolle zukommt, bleibt allerdings fraglich. Denn auch im Sport gilt mehr und mehr das Motto "Small is beautiful": Zulauf finden vor allem die Klein- und Kleinstvereine.
Allerdings stecken in den Vereinen nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht beachtliche Modernisierungspotenziale. Die Vereine sind auf der lokalen Ebene ein bedeutender kultureller Faktor. Sie sind die Veranstalter von Festen, von Kultur- und Sportereignissen. Und sie können die Orte einer lebendigen Demokratie sein und zur Weiterentwicklung der Zivilgesellschaft und Demokratie beitragen. Hier liegen auch die besonderen Modernisierungspotentiale, die uns in diesem Themenheft interessieren.
Das vorliegende Heft des Forschungsjournals will mit dem Themenschwerpunkt einen Einblick in die Welt der Vereine und in ihre Bedeutung für das bürgerschaftliche Engagement geben. Die Vereine sind noch nicht recht darauf eingestellt, sich als Sozialisationsagenturen für Bürgerkompetenzen begreifen und so einen Nährboden für die Demokratie zu bilden. Bestärkt wird diese Distanz gegenüber den eigenen demokratischen Möglichkeiten durch die große Zahl und das Wachstum der Freizeit- und Sportvereine, die primär die Bedürfnisse ihrer Mitglieder nach Freizeit, Sport und Erholung bedienen und sich eher von ihrer Umwelt abschließen.
Die Bedeutung der assoziativen Lebenswelt für die Gesellschaft und für die Demokratie ist vielen Vereinen und Vereinsmitgliedern noch nicht bewusst. Doch gibt es inzwischen Anzeichen dafür, dass sich ein allmählicher Bewusstseinswandel vollzieht. Hierarchische Strukturen, Eigensinn und Beharrungsvermögen, gepaart mit dem Wohlgefühl in der eigenen abgeschlossenen Welt stehen einem solchen Öffnungs- und Lernprozess freilich entgegen. Der erste Schritt einer Modernisierungsstrategie der Vereine könnte daher darin bestehen, dass sie sich verstärkt als Teil der zivilgesellschaftlichen Infrastruktur begreifen.
Modernisierungsbedarf besteht sowohl bei den Aktivitäten der Vereine nach außen als auch bei ihren Binnenstrukturen. In der Außenperspektive ist eine stärkere Vernetzung mit der lokalen Umwelt erforderlich, insbesondere mit anderen Organisationen des Dritten Sektors. Dies kann auch bedeuten, dass die Vereine neue Aufgaben in der Gesellschaft übernehmen - vielleicht auch solche, die Staat und Kommunen mangels Finanzen nicht mehr leisten können. Dies hat aber auch zur Folge, dass die Politikfähigkeit der Vereine zunehmen muss. Um geeignete Rahmenbedingungen für ihre künftige Arbeit zu schaffen, müssen sie sich als Akteure mit einer Stimme begreifen und diese auch erheben.
Modernisierungsbedarf besteht aber auch im Innern. Die Mitgliedschaftszahlen suggerieren zwar, dass es an Nachwuchs nicht fehlt. Doch fragt man die Verantwortlichen in den Vereinen, so wird schnell klar, dass es für Führungs- und Leitungspositionen nicht genügend Freiwillige gibt. Es mangelt vielfach an attraktiven Gelegenheiten für ein Engagement in den Vereinen, an Gestaltung und Vernetzung und insgesamt an einem zukunftstauglichen Rollenverständnis des zivilgesellschaftlichen Vereinsaktivisten. Auch die Vereine müssen Antworten auf die zunehmende Individualisierung der Gesellschaft entwickeln. Als Problem kommt hinzu, dass die Bereitschaft bei vielen abnimmt, sich langfristig an Organisationen zu binden.
Die Binnenmodernisierung betrifft vor allem die Zielsetzungen, Strukturen und Arbeitsweisen. Sie müssen so gestaltet werden, dass sie den Prinzipien der Zivilgesellschaft nach Transparenz, Öffentlichkeit, Kooperation und Partizipation gerecht werden. Dies kann auch heißen, dass neue Wege in der Rekrutierung von Mitgliedern beschritten werden und Ämter nicht nur an ‚langgediente' Mitglieder vergeben werden. In diesem Sinne sollten auch Mitwirkungsmöglichkeiten projektbezogen und begrenzt angeboten werden. Hinzu kommen muss aber auch die Bereitschaft, sich auf neue Motivlagen und Bedürfnissen von Mitgliedern einzustellen. Dies betrifft nicht nur eine verändertes Erwerbsverhalten und geschlechterspezifische Bedürfnisse nach Zeiteinteilung und Beteiligung, sondern auch ein gezieltes Freiwilligenmanagement mit Personalentwicklung und Gewinnung von bisher unterrepräsentierten Gruppen. Beispielsweise ist der Sport in seinen ehrenamtlich besetzten Leitungspositionen immer noch eine Männerdomäne. Zu den Veränderungen der Motivlagen von Mitgliedern und potenziellen Mitgliedern zählt auch die stärkere Orientierung am eigenen Nutzen einschließlich der verstärkten Suche nach einem persönlichen Sinn in dem jeweiligen Engagement. Vereine müssen darauf Antworten finden, denn Freiwillige wollen nicht nur für andere etwas tun, sondern damit auch eigene Bedürfnisse befriedigen.
Die Wissenschaft (Politikwissenschaft, Geschichte, Soziologie) hat immer schon auf die Bedeutung der freiwilligen Vereinigungen für die Gesellschaft und für die Demokratie hingewiesen. Alexis de Tocqueville war einer der Ersten, der dieses Fundament für die amerikanische Demokratie bereits im 19. Jahrhundert richtig einschätzte. Und für die Bundesrepublik hat Ernst-Wolfgang Böckenförde auf die ‚vorpolitischen' Voraussetzungen der Demokratie aufmerksam gemacht, die auch in der assoziativen Lebenswelt zu finden sind und die eine demokratische Gesellschaft nicht einfach herstellen und erzwingen könne. Jürgen Habermas hat die assoziative Lebenswelt als Teil der politischen Kultur wahrgenommen, aber den Assoziationen lediglich in Ausnahmefällen zugestanden, auf das politische System einzuwirken.
Trotz dieser unzweifelhaften Wichtigkeit der Welt der freiwilligen Vereinigungen wurde in der normativen politischen Theorie immer abstrakt vom ‚Assoziationswesen' gesprochen, das den für die Demokratie notwendigen Unterbau liefern würde. Nirgendwo wurde konkret von Vereinen gesprochen. Die Angst, den ‚Vereinsmeiern' zugerechnet zu werden, saß zu tief. Es gibt also nach wie vor ein empirisches Forschungsdefizit. Die Einsicht in die Bedeutung der Vereine ist durch die Konjunktur des Themas Zivilgesellschaft und bürgerschaftliches Engagement noch einmal gewachsen. Auch die Kommunitarismus-Diskussion in den 1990er Jahren hat die Bedeutung der freiwilligen Vereinigungen unterstrichen.
Bürgerschaftliches Engagement ist freilich weit umfassender, als es der Begriff des Ehrenamtes anzeigt. Die Vereine waren und sind immer noch die Domäne des Ehrenamtes. Aber das Engagement in den Vereinen umfasst neben den Wahlämtern (Vorsitz, Schriftführer, Jugendwart, Festwart etc.) auch zahlreiche informelle Tätigkeiten (Kinder zum Wettkampf fahren, Vereinsheim putzen, Vereinsfeste mit organisieren etc.). Engagementförderpolitik muss hier ansetzen - sie muss die Modernisierungspotenziale der Vereine fördern, ohne sie gleich zu ökonomischen Agenturen der Dienstleistungsgesellschaft zu machen. Die rechtliche Form des Vereins ist aber auch gleichzeitig eine offene Form für ganz unterschiedliche Zwecke des Zusammenschlusses. Denn nur wenn es einen Rahmen gibt, kann Engagement sich entwickeln.
Der Schwerpunkt dieses Heftes wurde von Sebastian Braun zusammengestellt und koordiniert. Er geht in seinem Einleitungsbeitrag darauf ein, dass dem bürgerschaftlichen Engagement und damit auch den Vereinen viele Funktionen zugeschrieben werden. Sie sollen nicht nur das notwendige soziale Kapital für den Kitt der Gesellschaft produzieren. Die Vereine sollen auch einen Beitrag leisten zur Linderung der Krise der Arbeitsgesellschaft, des Wohlfahrtsstaates und der Demokratie. Ein nüchterner Blick lehrt jedoch, dass Vereine zwar viele Aufgaben übernehmen, aber überfordert werden, wenn man sie als Mittel gegen alle Übel der Gesellschaft ansieht. Die umstandslose Funktionalisierung und Instrumentalisierung des bürgerschaftlichen Engagements missversteht zudem seine Besonderheit. Vereine sind sicher keine ‚alternative Steuerungsressource', mit der das Versagen der Politik kompensiert werden könnte. Braun erkennt aber doch den ‚Verein als Hoffnungsträger' und wichtigen Beiträger zur Bewältigung der skizzierten Krisenphänomene. Möglich sei dies durch die ‚Multifunktionalität' und ‚strukturelle Unbestimmtheit' der Vereine. Um aber genaueres sagen zu können, müssen die Leistungspotenziale der Vereine erst einmal empirisch überprüft werden.
Diese Prüfung übernehmen Sebastian Braun und Stefan Hansen in ihrem Beitrag ‚Soziale und politische Integration durch Vereine?' Die Theoretiker des Sozialkapitals schreiben den zivilgesellschaftlichen Assoziationen vielfältige Funktionen zu. Sie sollen das soziale Kapital hervorbringen, das die Gesellschaft zusammenhält, dem Einzelnen Vorteile bringt und uns vor Bindungslosigkeit und Egoismus bewahrt. Es soll auch die Performanz des Systems und der Demokratie verbessern und insgesamt helfen, Armut, Arbeitslosigkeit und Kriminalität zu bekämpfen sowie wirtschaftliches Wachstum und Innovation fördern. Diese hochgesteckten Erwartungen an das soziale Kapital lassen die Frage aufkommen, warum die politisch Verantwortlichen nicht schon längst auf die Idee gekommen sind, große Programme zur Förderung des bürgerschaftlichen Engagements und insbesondere des Vereinsweisen aufzulegen. Braun und Hansen beantworten diese Frage am Beispiel der Vereine. Die Antwort ist nicht so einfach, denn mit der Anzahl der Vereinsmitglieder steigt nicht automatisch die Integrationskraft der Gesellschaft. Die Vermutung, dass in den Vereinen die ‚kompetenten Bürger' sozialisiert werden, dass dort also die kognitiven, prozeduralen und habituellen Bürgerkompetenzen erworben werden können, bedarf der Korrektur. Es gibt zwar empirische Hinweise darauf, dass Vereinsmitglieder aufgeschlossener gegenüber Politik sind, dass sie weniger individualistisch und hilfsbereiter sind als Nicht-Vereinsmitglieder. Doch die wissenschaftliche Analysefähigkeit hat auch ihre Grenzen. Es gibt keine verlässlichen Informationen darüber, was sich in der ‚black box' Verein abspielt. Zudem ist zwischen der Vielzahl von Vereinen zu unterscheiden - etwa zwischen binnenorientierten und außenorientierten Vereinen. Es kann auch sein, dass die Vereinsmitglieder ihre besonderen sozialen und politischen Orientierungen woanders erwerben und dass sich in Vereinen Bürger mit diesen besonderen Kompetenzen verstärkt sammeln. Grundsätzlich ist die Transferannahme auch nicht geklärt, wie die Menschen die Orientierungen, die sie im Verein erworben haben, auf andere Bereiche übertragen. Insgesamt ist daher gegenüber den euphorischen Annahmen Robert Putnams über die segensreichen Wirkungen des Sozialkapitals mehr Skepsis angebracht. Hier bedarf es weiterer Forschung, bevor diese Wirkungsannahmen als gesichert gelten können.
Die Warnung davor, die Vereine mit allen erdenklichen Funktionszuweisungen zu befrachten, wird auch durch die Studie von Wolf-Dietrich Brettschneider bekräftigt. Brettschneider hat 2001 eine Studie mit dem Titel ‚Jugendarbeit in Sportvereinen: Anspruch und Wirklichkeit' im Auftrag des nordrhein-westfälischen Ministeriums für Städtebau und Wohnen, Kultur und Sport veröffentlicht. Die Studie hat heftige Reaktionen hervorgerufen. Brettschneider erklärt und verteidigt seine Studie in diesem Heft. Der Sportverein ist nach wie vor die Nummer 1 der Jugendorganisationen, doch er wird in seinen Leistungen und in seiner Leistungsfähigkeit für die Entwicklung der psychosozialen Gesundheit überschätzt. Offensichtlich gelingt es den Vereinen, die sowieso schon körperlich fitten und psychisch stabilen Jugendlichen an sich zu binden.
Um die Leistungspotenziale der Vereine und des Engagements ausfindig zu machen, sind empirische Langzeitbeobachtungen des bürgerschaftlichen Engagements notwendig. Eckhard Priller versammelt in seinem Beitrag die (wenigen) verfügbaren empirischen Befunde zur Entwicklung des Engagements in einer längerfristigen Perspektive. Diese Befunde diskutiert er vor dem Hintergrund unterschiedlicher Szenarien - Niedergang des Engagements, Strukturwandel des Engagements und zyklische Entwicklung des Engagements. Er kommt zu dem Ergebnis, dass das Niedergangsszenario, das Robert Putnam für Amerika gezeichnet hat, für Deutschland nicht zutrifft. Festzustellen sei eher eine Zunahme, gepaart mit einem Strukturwandel des Engagements. Deutlich wird aber auch, dass in einer Langfristperspektive die Zahl der Vereine seit den 1950er Jahren deutlich zugenommen hat.
Engagement braucht organisatorische Formen, in denen es ausgeübt werden kann. Beschäftigungsgesellschaften sind ‚Soziale Unternehmen', die ohne Gewinnabsichten zivilgesellschaftliche Aufgaben übernehmen. Sie sind Teil einer gemischten Wohlfahrtsproduktion und vielfach eine Antwort auf Arbeitslosigkeit und Ausgrenzung. Ingo Bode, Adalbert Evers und Andreas Schulz zeigen in ihrem Beitrag, dass diese Beschäftigungsgesellschaften soziales Kapital schaffen und einen zivilgesellschaftlichen Rückhalt genießen. Sie sind als eigenständiger, ‚Dritter' Weg der Beschäftigungsförderung anzusehen. Heute werden diese Beschäftigungsgesellschaften aber immer mehr an den Rand gedrängt und zu bloßen ‚Auffangbecken' degradiert.
Der Beitrag von Ulrike Schumacher untersucht die Rolle des bürgerschaftlichen Engagements in der Arbeitsgesellschaft. Am Beispiel des Engagements in Berliner Umweltgruppen hat sie festgestellt, dass ein solches Engagement die berufliche Orientierung verstärken, ergänzen, ausgleichen oder auch als Alternative nach der Familienphase wahrgenommen werden kann. Gerade bei der Mitarbeit bei Umweltinitiativen in Brandenburg kommt es vielfach zu Enttäuschungen, weil eine Überführung oder Überbrückung in ein Arbeitsverhältnis meist nicht gelingt. Um mehr Beteiligung in Umweltinitiativen und für bürgerschaftliches Engagement generell zu erreichen, plädiert Schumacher für mehr Beteiligungsrechte, für eine bessere Infrastruktur und für eine umfassendere Kultur der Anerkennung des Engagements. Auch in diesem Beitrag zeigt sich, dass Engagement organisatorische Formen braucht und eng mit der Erwerbsarbeit verzahnt ist. Schumacher mahnt aber auch eine Diskussion um gesellschaftliche Leitbilder an, denn nur so könne das Reformmodell Bürgergesellschaft eine Chance bekommen.
Die Shell-Jugendstudien und andere Publikation versuchen das abnehmende Interesse von Jugendlichen an Politik zu belegen. Im Essay dieses Heftes schließt sich Hans Oswald dieser Meinung nicht an. Er plädiert mit Blick auf us-amerikanische Forschungen und Erfahrungen für Entwarnung und einen präziseren Blick auf jugendliches Verhalten. Wenn Jugendlichen ein geringeres Interesse an Politik zugeschrieben wird, so ist dies auch damit in Zusammenhang zu sehen, dass ihnen kaum Verantwortung übertragen wird. Wenn sich die Schule stärker für Erfahrungen und Möglichkeiten des bürgerschaftlichen Engagements öffnet, sind - so die amerikanischen Erfahrungen - deutlich ausgeprägtere Gemeinwohlorientierungen die Folge.
In der Sozialkapital-Diskussion macht die Differenzierung zwischen ‚bridging' und ‚bonding social capital' aufmerksam sowohl auf die möglichen vermittelnden Leistungen sozialer Netzwerke - über ethnische und andere Gruppen-Differenzen hinweg - als auch auf exklusive, ab- und ausschließende Effekten, die sich in Assoziationsverhältnissen und Netzwerken einstellen können. Mit ihren empirischen Forschungsergebnissen weisen Maria Berger und Ruud Koopmans unter Konzentration auf den Vergleich des Engagements von Türken in ethnischen Organisationen in Amsterdam und Berlin nach: Ethnische Assoziationen leisten durchaus einen wichtigen Beitrag zur politischen Integration von Migranten und zu einem ‚bridging social capital'. Sie befördern keineswegs zwangsläufig die Entwicklung von ‚Parallelgesellschaften'. Es sind jedoch eher die individuellen Rechte als die kulturellen Gruppenrechte, die die politische Integration von Migranten fördern. Die niederländische Integrationspolitik mit ihrer starken Förderung kultureller Gruppenrechte wird im Lichte dieser Untersuchung skeptisch beurteilt. Eine stärkere Förderung von Migrantenorganisationen ist für die AutorInnen jedoch unverzichtbarer Bestandteil einer erfolgreichen Integrationspolitik.
Die Förderung des bürgerschaftlichen Engagements insgesamt, so Thomas Leif, hat zwar mit der Enquete-Kommission ‚Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements' und dem ‚Internationalen Jahr der Freiwilligen 2001' an kurzfristiger Aufmerksamkeit gewonnen. Doch ihr Ruf als ‚weiches Politikfeld' verstellt den Blick auf die Notwendigkeit einer konsequenten Engagement-Politik. De Förderung der Bürgergesellschaft ist allerdings nicht ohne Konflikte mit etablierten Akteuren und Strukturen zu haben. Angesichts des absehbaren Wandels wichtiger Politikfelder, von gravierenden Strukturänderungen - etwa im Zivildienst - und von extremen demographischen Herausforderungen verstärkt sich die Neigung, das bürgerschaftliche Engagement als Lückenbüßer und Ausfallbürgen zu adressieren und zu instrumentalisieren. Eine kluge, konzeptionell angelegte ‚Engagement-Politik' müsste im Vorgriff auf die absehbaren Probleme handeln und insbesondere eine robuste Infrastruktur der Engagementförderung schaffen, ist aber nicht einmal in Umrissen zu erkennen.
Rudolf Speth, Berlin; Ansgar Klein (Berlin); Sebastian Braun (Paderborn)
Anmerkungen
- Thomas Klie, Hans Hoch und Paul-Stefan Roß stellen in der Rubrik ‚Pulsschlag" die Anlage einer Verbändebefragung 2003 in Baden-Württemberg vor - die Notwendigkeit der eigenen Engagementförderung und der Bedarf an eigenen Organisationsreformen und weiterer Vernetzung wird in der Befragung auch für die Verbände deutlich.