Die ‚Bindestrich-Sozialwissenschaften' haben mit der ‚Wissens-Gesellschaft' und der ‚Informations-Gesellschaft' erhebliche Erweiterungen erfahren. Wissen und Information sind in den letzten Jahrzehnten offenbar in den Brennpunkt der wissenschaftlichen wie politischen Diskussion geraten. In den 1980er Jahren hatte die Diskussion um die ‚Risiko-Gesellschaft' auf die Gefahren wissenschaftlich-technischer Entwicklungen hingewiesen. Seitdem haben sich Konflikte zwischen dem wissenschaftlich bzw. technisch Machbaren und dem ethisch Verantwortbaren vertieft und ausgeweitet: Von der Atomkraft über gen- und biotechnologische Entwicklungen bis hin zu den durch die neuen Medien entstandenen Möglichkeiten staatlichen Überwachung reichen die Themenfelder mit zunehmend gesellschaftspolitischer Sprengkraft.
Ungeachtet der vom Risikodiskurs beleuchteten ‚dunklen Seiten' wissenschaftlich-technischer Entwicklungen ist der Wissenschaftliche Fortschritt unbestreitbar zur zentralen Produktivkraft postindustrieller Gesellschaften geworden. Damit rücken Fragen der Verteilung von und des Zugangs zu Wissen und Informationen immer stärker in den Vordergrund: Dabei wird in aktuellen Debatten ein thematischer Bogen gespannt von der Wirtschaftskraft wissensintensiver Dienstleistungsindustrien über eine zunehmende ‚digitale Kluft' zwischen ‚information rich' and ‚information poor' bis hin zur Ausbeutung des traditionellen Wissens von Naturvölkern zum einseitigen Nutzen multinationaler Konzerne mit den Mitteln eines entsprechend zugerichteten Patentrechts.
Die Diskurse zu Wissens- und Informationsgesellschaft weisen inhaltliche Unterschiede auf, zeichnen sich durch divergierende Schwerpunktsetzungen aus und zielen auf unterschiedliche Akteure und Communities. Dennoch lassen sich beide Diskurse nicht voneinander trennen, zumal sie in der englischsprachigen Literatur zumeist ohnehin gemeinsam unter dem Oberbegriff information society abgehandelt werden. Beiden Diskursen liegen folgende Basisannahmen zugrunde:
- Die informationstechnologische Entwicklung führt zu schnelleren und weitreichenderen Möglichkeiten der weltweiten Genese, Speicherung, Verarbeitung und des Austauschs von Informationen.
- Wertschöpfung in modernen (postindustriellen) Gesellschaften verlagert sich zunehmend in den wissensintensiven Dienstleistungssektor. Im internationalen Wettbewerb werden somit Wissen, Lernen, Bildung und Forschung zu signifikanten Erfolgskriterien.
- Gleich landwirtschaftlichen Gütern, Bodenschätzen und Produktionsmitteln wird Wissen zu einer relevanten und vermeintlich begrenzten Ressource, was Fragen nach Verteilung(sgerechtigkeit), Zugangschancen, Wettbewerb, Besitzrechten etc. aufwirft.
Das vorliegende Themenheft diskutiert vor diesem Hintergrund einige der zentralen Fragestellungen, die insbesondere im Rahmen des ersten UN Weltgipfels für die Informationsgesellschaft (WSIS) sowohl in nationalen als internationalen Debatten aktuelle Beachtung erfahren haben.
Im September 2001 verabschiedete das Europäische Parlament den Abschlussbericht zum ECHELON-Untersuchungsausschuss, in dem erstmal offiziell die Existenz eines weltweiten Abhörnetzwerks bestätigte. Das System zeichnet die gesamte Kommunikation auf, die über internationale Telekommunikationssatelliten läuft oder durch Kabel geleitet wird, die auf dem Meeresboden verlegt sind. "Damit ist es ECHELON möglich, jegliche Art von unverschlüsselter und einige Arten von verschlüsselter Kommunikation, insbesondere solche, die in standardisierten Verfahren verschlüsselt wird, auf der ganzen Welt abzuhören und zu verarbeiten. ECHELON soll täglich bis zu 3 Milliarden Kommunikationsverbindungen abhören und dabei sowohl Telefon- und Faxverbindungen, E-Mail-Verkehr, Internet-Chats, Newsgroups und ähnliches erfassen"(ECHELON-Bericht 2001). Die so anfallende Datenflut wird mittels moderner Filtersysteme und ‚Wörterbücher' auf vordefiniert Reizworte überprüft und klassifiziert sowie einzelne Kommunikationen für die weitere nachrichtendienstliche Weiterbe- und -verarbeitung selektiert. Die Verwaltung des Abhörsystems obliegt der US-amerikanischen Nachrichtendienstbehörde NSA (National Security Agency); als Betreiber fungiert die nachrichtendienstliche Allianz UKUSA, der neben den USA auch Großbritannien, Australien, Neuseeland und Kanada angehören.
Experten bezeichnen als Hauptziel dieser flächendeckenden Abhörmaßnahme nicht die Abwehr militärischer Gefahren, sondern neben dem Kampf gegen internationalen Terrorismus insbesondere die Filterung und Sammlung von Informationen über industrielle Forschungsergebnisse und Entwicklungen. Abgehört werden demnach "Regierungen, Organisationen, Firmen und Individuen in fast jedem Land. Es betrifft potentiell jeden Menschen, der zwischen Ländern (und manchmal auch innerhalb eines Landes) an irgendeinem Ort [elektronisch] kommuniziert." (Nicky Hager, zitiert nach Rötzer 1998, vgl. auch Hager 1996).
Verglichen mit der breiten Protest- und Boykottbewegung anlässlich der Volkszählung in Deutschland Ende der 1980er Jahre und auch der öffentlichen Diskussion um ‚kleinen' und ‚großen Lauschangriff' in den 1990er Jahren haben die beschriebene Abhörpraxis und damit der potenziell wesentlich drastischere Eingriff in die eigentlich geschützte Privatsphäre dennoch kaum nennenswerte öffentliche Aufmerksamkeit erfahren. Insbesondere das mit den Anschlägen des 11. September begründete, notwendige Interesse an wirksamen und vorbeugenden Maßnahmen zum Schutz vor internationalem Terrorismus scheint in der ‚Informationsgesellschaft' des 21. Jahrhunderts als Legitimationsgrundlage auszureichen, um derartige Aktivitäten von BürgerInnen und Bürgern unbeanstandet durchgehen zu lassen, die sich ohnehin an Patienten- und Kundenkarten, Payback- und Treue-Bonus-Systeme und deren Datensammlungs-Funktionen offensichtlich weitgehend gewöhnt haben.
Die flächendeckende Aufzeichnung von Kommunikation durch ECHELON würde jedoch zu keinen verwertbaren Ergebnissen führen, wenn bei der Kommunikation moderne Verschlüsselungstechniken eingesetzt würden, die es ermöglichen, telefonische oder elektronische Mail-Kommunikation hinreichend sicher zu chiffrieren, um unbefugtes Mitlesen unmöglich zu machen, bzw. den Dechiffrieraufwand auf ein Maß zu erhöhen, der die Entschlüsselung der codierten Informationen unwirtschaftlich werden lässt. Folgerichtig gab und gibt es immer wieder staatliche Bestrebungen, den privaten Einsatz solcher kryptographischer Systeme zu reglementieren.
In den USA ist der Einsatz des sehr effizient verschüsselnden Systems PGP (Pretty Good Privacy) zwar erlaubt, nicht jedoch dessen Export. Auch der Export von Internetbrowsern, welche Verschlüsselungs-Software integrieren, ist in den USA verboten. Diese Exportverbote führen dazu, dass es von bestimmten sicheren Programmen eine US-amerikanische und europäische Versionen (entweder weniger sichere Varianten für den europäischen Markt oder ebenso sichere europäische ‚Nachbauten') gibt (vgl. Stelter 1997).
Während in der Bundesrepublik der Einsatz von Verschlüsselungssystemen (noch) nicht staatlich reglementiert ist, gibt es eine Reihe von Ländern, in denen Verschlüsselungstechnologien zum Schutz der Privatheit generell verboten sind oder in denen Verschlüsselung zwar erlaubt ist, die privaten Schlüssel (Chiffrier-Codes) der Kommunikation jedoch bei zentralen Kontrollstellen hinterlegt werden müssen, um im Bedarfsfall die jederzeitige Entschlüsselung zu ermöglichen.
Andererseits ist zu beobachten, dass im Zuge nationaler Reformen und europäischer Gesetzgebung Datenschutzrechte zunehmend im Hinblick auf Verwertungs- und Vermarktungsinteressen privatwirtschaftlicher Unternehmen interpretiert werden und weniger unter Berücksichtigung privater Schutzinteressen von Bürgerinnen/Bürgern und Verbraucherinnen/Verbrauchern. Der Ausbau und die Verschärfung von Copyrights und Patentschutzrechten limitieren oftmals den freien Zugang zu Informationen und wissenschaftlichen Erkenntnissen zugunsten exklusiver Gebrauchsrechte kommerzieller, privatwirtschaftlicher Interessenten und rufen damit verstärkt Nicht-Regierungsorganisationen auf den Plan, die für kulturell, sozial und politisch relevante Informationen (zumindest aber für öffentlich finanzierte Forschungsergebnisse) den Status des ‚öffentlichen (Allgemein-) Guts' reklamieren und daher uneingeschränkte Zugriffsrechte einfordern (vgl. die Beiträge von Mruck et al. und Kuhlen in diesem Heft). Die im Feld der Software-Entwicklung prominenten Kampagnen der Open Source-Bewegung (für lizenzfreie Computeranwendungen) oder die in der internationalen Wissenschaft zunehmend erfolgreiche Open Access-Bewegung (für den uneingeschränkt freien Zugang zu wissenschaftlichen Forschungserkenntnissen) sind nur zwei Beispiele für internationales Engagement gegen die skizzierten Tendenzen so genannter ‚digitaler Gräben' (digital divides) in der Weltinformationsgesellschaft.
Digitale Gräben zwischen privilegierten ‚information rich' mit weitreichendem Informationszugang und ‚information poor' mit sehr eingeschränkten Zugangschancen verlaufen jedoch nicht nur entlang der Konfliktlinien zwischen privaten, staatlichen und wirtschaftlichen Interessen, sondern nach wie vor insbesondere zwischen den hochentwickelten Industrienationen und den Völkern der armen Länder. Dabei waren Fortschrittsoptimisten und Internet-Euphoriker davon überzeugt, dass die neuen vernetzten Informations- und Kommunikationstechnologien zu besserer Verständigung und einem näheren Zusammenrücken von Völkern und Staaten in der zum ‚globalen Dorf' geschrumpften Welt führen würden. Stattdessen macht sich zwischen den hochtechnisierten Staaten des Nordens und Westens und den technologisch weniger gerüsteten Ländern des Südens eine ‚digitale Kluft' zunehmend bemerkbar, ein Graben, der aktuellen Erhebungen zufolge immer noch ca. 90 Prozent der Weltbevölkerung von der Beschleunigungsspur auf den ‚Internet-Highway' abschneidet (vgl. Shiels 2004, Benton Foundation 2000).[1]
Vor dem Hintergrund dieser hier nur sehr exemplarisch und kursorisch beschriebenen Problemlage um die Gewinnung, Verarbeitung und Verbreitung von Informationen sowie um die Verwaltung von, den Zugang zu und den Umgang mit Wissen in einer technologisch vernetzten Welt fand im Dezember 2003 in Genf der erste Teil des ersten Weltinformationsgipfels (World Summit for the Information Society(WSIS)) der Vereinten Nationen statt, dessen zweiter Teil für Dezember 2005 in Tunis geplant ist.
Im Rahmen dieses Gipfels waren - wie schon zuvor auf UN-Konferenzen - auch Nicht-Regierungsorganisationen mit eigenen Erklärungen vertreten. In Deutschland wurde der in der Vorbereitung des Gipfels stattfindende NGO-Verständigungsprozess zur Formulierung der ‚Charta der Bürgerrechte für eine nachhaltige Wissensgesellschaft' durch eine Initiative der Heinrich-Böll-Stiftung angeregt und von einem sogenannten ‚Zivilgesellschaftlichen WSIS-Koordinierungskreis' organisiert. Die Ergebnisse des Gipfels analysiert in diesem Heft Rainer Kuhlen als ein Mitglied dieses Kreises. Er stellt zudem den Prozess und die Ergebnisse der bundesdeutschen Diskussion dar.[2]
Der Themenschwerpunkt greift zudem die Open Access-Debatte auf und präsentiert mit dem Beitrag von Mruck, Gradmann und Mey eine Analyse dieser internationalen Bewegung und ihrer bisherigen Erfolge aus Sicht führender deutscher Protagonisten.
Mit bundesdeutschem Bezugsrahmen untersuchen Uwe H. Bittlingmayer und Ullrich Bauer am empirischen Beispiel der Bildungsforschung und unter Rückgriff auf die Sozialstrukturanalyse soziale Ungleichheit in der ‚Wissensgesellschaft'.
Als Mitarbeiterin des Datenschutzzentrums Schleswig-Holstein, einem der ersten Bundesländer, die ein Gesetz zum Informationsfreiheitsrecht eingeführt haben, beschreibt Barbara Körffer die bundesdeutsche Debatte um das Recht auf Informationsfreiheit. Während sie umfassend in die Thematik einführt und den Stand der Diskussion reflektiert, berichtet Manfred Redelfs ergänzend im Pulsschlag als Greenpeace-Mitarbeiter und Aktivist des ‚Netzwerks Recherche' über die aktuelle Kampagne zur Einführung eines bundesweiten Informationsfreiheitsrechts, deren Befürworter und Gegner.
Markus Rohde, Bonn
Anmerkungen
- Stellvertretend sei hier eine Studie von Christian Flatz (2004) zitiert, der in seiner Analyse "Afrikas Weg in die Informationsgesellschaft" die strukturellen Ungleichgewichte mit folgendem Bild illustriert: "Während das Internet gemeinhin mit einem Spinnennetz verglichen wird, hat es in der Tat mehr Ähnlichkeiut mit einer Spinne, deren fetter Körper in Nordamerika sitzt. Zwei Drittel des afrikanischen Internetverkehrs laufen über Unterseekabel oder Satelliten in die USA, das andere Drittel geht nach Europa. Dies bedeutet nicht nur, dass die Internetkommunikation zwischen einem Tongolesen und einem Kenianer über Computer in den USA geleitet wird, es fördert auch die Profitraten der beteiligten Telekommunikationsunternehmen im Norden." (Flatz 2003: 72) [zurück]
- Zu den Ergebnissen des WSIS-Gipfels vgl. auch Ludwig 2003. [zurück]
Literatur
- Benton Foundation 2000: Digital Divide Basics Fact Sheet. Digital Divide Network Staff. http://www.digitaldividenetwork.org/content/stories/index.cfm?key=168
- ECHELON-Bericht 2001: Abschlussbericht des ECHELON-Untersuchungsausschusses. http://www2.europarl.eu.int/omk/sipade2?PUBREF=-//EP//TEXT+REPORT+A5-200...
- Flatz, C. 2003: Afrikas Weg in die Informationsgesellschaft - Eine Illusion? In: Widerspruch - Beiträge zu sozialistischer Politik, 45, 23. Jg./2. Halbjahr 2003, 69-78.
- Hager, N. 1996: Secret Power - New Zealand's role in the international spy network. Nelson: Neuseeland.
- Ludwig, W. 2003: Genfer UNO-Weltgipfel zur Informationsgesellschaft. Anspruch und Wirklichkeit eines Aushandlungsprozesses. In: Widerspruch - Beiträge zu sozialistischer Politik, 45, 23. Jg./2. Halbjahr 2003, 93-103.
- Rötzer, F. 1998: Der Große Bruder hört mit. Einzelheiten über das globale Überwachungssystem Echelon, Spiegel. http://www.spiegel.de/netzwelt/politik/0,1518,155819,00.html
- Shiels, M. 2004: Turn off, log out, shut down. BBC news online, 23.01.2004, http://www.bbc.co.uk/1/hi/magazine/3420917.stm (nicht mehr verfügbar)
- Stelter, A. 1997: Verschlüsselung und elektronische Unterschrift im Internet. Vortrag auf dem THESIS-Jahrestreffen, September 1997. http://www.astelter.de/html/verschluesselung_und_elektronis.htm