"Demokratiemaschine Internet?" So betitelt die Zeitschrift Das Parlament seine Themenausgabe vom 24. April 2006. Die Überschrift impliziert die große Hoffnung, die in die neuen Medien gesetzt wird. Denn gemeinhin gilt das Internet als ‚Instrument der herrschaftsfreien Kommunikation'. Es biete das Potential, das Dilemma der symmetrischen Kommunikation und Information zu überbrücken, argumentiert Simone Zell in ihrem Parlament-Leitartikel. Asymmetrische Informationsverteilung gelte in der politischen Wissenschaft als ein entscheidendes Kriterium für Demokratiedefizit: "Wer nicht informiert ist, kann nicht mitentscheiden. Wer keinen Weg findet, sich zu artikulieren, wird auch nicht gehört". Das Fragezeichen im Titel nimmt aber zugleich vorweg, dass diese Hoffnung sich bislang noch nicht erfüllt hat. Zum einen ist das Internet immer noch kein Massenmedium wie das Fernsehen. Und zum anderen funktionieren selbst die Menschen, die das Internet regelmäßig nutzen, nicht so, wie die Demokratietheorie sich das wünscht. Weder beteiligen sie sich in dem Maße an Stimmabgaben im Internet, dass sie repräsentativ wären noch tummeln sich die Internetnutzer ständig in Diskussionsforen, die im Internet angeboten werden. Dennoch sollten die Chancen nicht unterschätzt werden, die das Internet als zusätzlicher Gestaltungs- und Interaktionsraum bietet. Das vorliegende Themenheft möchte diese Möglichkeiten insbesondere im Bezug auf Neue Soziale Bewegungen untersuchen.
Der Titel des vorliegenden Themenheftes kann zwei unterschiedliche Forschungs-Fragestellungen implizieren: Zum einen stellt sich die Frage, ob es im Medium Bewegung gibt, das heißt in welche neuen Richtungen sich das Internet entwickelt. Diese Fragestellung schließt technische Aspekte (Zugänge, Protokolle, Standards etc.) ebenso ein, wie die politische Diskussion um Administration und Regulierung im Internet oder neuartige, web-gestützte Dienste, die neue Formen sozialer, interaktiver Kommunikation ermöglichen sollen (vgl. die Diskussion um das ‚Internet der nächsten Generation' oder ‚Web 2.0'; O'Reilly 2005). Zum anderen ist zu untersuchen, inwieweit soziale Bewegungen das Internet nutzen: Wie beeinflusst das Medium Internet die Kommunikation, Mobilisierungs-, Protest- und Kampagnenstrategien sozialer Bewegungen? Repräsentiert das Internet eine neue Form von Öffentlichkeit, auf die soziale Mobilisierungs- und Protestaktivitäten zielen? Sind Aktionsformen und Kampagnenbündnisse oder gar neue soziale Bewegungen entstanden, die es ohne das Internet gar nicht geben würde? Das Forschungsjournal hat sich in der Vergangenheit mehrfach mit den Auswirkungen und Potentialen neuer Medien für soziale Bewegungen beschäftigt, so zum Beispiel in einem Themenheft zu ‚Sozialen Bewegungen und Medien' (FJNSB 1/1996) oder zuletzt unter dem Titel ‚Wissen ist Macht. Wer bestimmt die Weltinformationsgesellschaft?' (FJNSB 2/2004). Der aktuelle Themenschwerpunkt liefert nun quasi ein ‚Update' dieser früheren Diskussionen vor dem Hintergrund der Aufmerksamkeit, die neuartige web-basierte Medien und Informationsdienste (Weblogs, Podcasts, Wickis, Videoblogs, Instant Messaging etc.)i derzeit erfahren und die unter Stichworten wie ‚social software' (Hippner/Wilde 2005) oder ‚Groupware'ii (Hartmann et al. 1994) geeignete technische Infrastrukturen zur Unterstützung ‚virtueller Organisationen' (Mambrey et al. 2003) oder ‚Online-Communities' (Rheingold 2000, Werry/Mowbray 2001) und (welt-)weit verteilter sozialer Netzwerke versprechen.
Während sich das vorgenannte Themenheft zur Weltinformationsgesellschaft (FJNSB 2004) jedoch im Kontext des UN-Weltgipfels für die Informationsgesellschaft (WSIS) vorrangig mit politischen Fragen des Zugangs zu und der Verteilung von Informationen befasst hat, konzentriert sich das vorliegende Themenheft stärker auf die Analyse neuer Kommunikationsformen im Medium Internet und deren Nutzung durch und Auswirkung auf soziale Bewegungen. Einzelne, teils spektakuläre Beispiele deuten darauf hin, dass das Internet jenseits der herkömmlichen (Massen-)Medien neue Potentiale für selbständige, dezentrale Öffentlichkeitsarbeit und journalistische Kampagnen bietet. Regelmäßig stammen in den vergangenen Jahren die ersten und oftmals authentischsten Berichte von Naturkatastrophen (wie z.B. des verheerenden Tsunamis Weihnachten 2004) oder auch von Terroranschlägen (wie den Bombenattentaten auf Madrider Züge im März 2004) und Kriegshandlungen in Krisengebieten nicht von professionellen Journalisten, Kriegsberichterstattern oder öffentlichen Informationsagenturen, sondern von betroffenen Bewohnern der jeweiligen Regionen oder politischen Aktivisten, die ihre Beobachtungen zeitnah und weltweit über das Internet verbreiten.
Mit dem Independent Media Center (IMC) oder ‚Indymedia' existiert ein globales Netzwerk von unabhängigen Medienaktivisten, (Online-) Journalisten und politisch engagierten Menschen, die hunderte lokale IMC-Portale mit regionalen und/oder thematischen Schwerpunkten betreiben und soziale wie politische Nachrichten ‚von unten' publizieren. Grundsätzlich kann jede und jeder Engagierte eigene Beiträge bei Indymedia veröffentlichen. Die Beiträge können kommentiert, korrigiert, ergänzt und diskutiert werden, wobei freiwillig arbeitende ‚Redakteure' (Mods) versuchen, grundlegende Qualitätsmaßstäbe zu sichern, Beiträge zu bewerten und zu priorisieren (z.B. durch Publikation besonders interessanter und gut recherchierter Beiträge auf Hauptseiten) sowie unerwünschte Beiträge (z.B. rechtsradikalen oder fremdenfeindlichen Inhalts) zu löschen.
Eine Vielzahl politischer Organisationen, NGOs und sozialen Bewegungen publizieren Nachrichten und Informationen in eigenen Webportalen. Bekanntmachungen zu Kampagnen und Aktionen, Mobilisierungen zu Veranstaltungen und Demonstrationen finden so schnelle und möglichst weite Verbreitung jenseits der ‚traditionellen' medialen Kanäle von Massenmedien, Flugblättern, Plakaten und ähnlichem. Eine regelrechte ‚Frontlinie' hat sich dabei in den vergangenen Jahren zwischen rechten, nationalistischen Infoportalen und ihren linken, antifaschistischen Pendants gebildet: Rechte und linke Netzaktivisten und ‚Online-Guerrilleros' attackieren gegnerische Internetangebote, versuchen Adressen vermeintlich feindlicher Besucher zu sammeln, gegnerische Seiten zu ‚hacken', sie zu ‚übernehmen', vom Netz zu nehmen oder zu verändern (‚defacement'). Beide Seiten sammeln Informationen über den politischen Gegner und veröffentlichen Fotos, Namen und Adressen linker und rechter Aktivisten auf ihren jeweiligen Infoportalen. Nicht selten kommt es dann zu realen Übergriffen auf jeweils gegnerische AktivistInnen, auf ihre Fahrzeuge oder private Wohnungen. Erst im Mai 2005 wurde beispielsweise in Warschau ein Antifaschist von rechten Angreifern in Nähe seiner Wohnung niedergestochen. Dieser Angriff wurde von Antifaschisten auf die zuvorige Veröffentlichung seiner Daten in einem faschistischen Infoportal zurückgeführt.
Auch direkte Protestaktionen im Internet haben in der Vergangenheit Aufmerksamkeit erregt: So riefen im Juni antirassistische Initiativen aus Protest gegen die deutsche Abschiebungspolitik und die Kooperation in der Abschiebepraxis mit der Lufthansa Internet-Nutzer dazu auf, durch teils automatisierte, massenhafte, zeitgleiche Seitenaufrufe die Lufthansa-Homepage zu blockieren - quasi eine ‚Sitzblockade' im Internet. Dieser Aufruf führte zu teils massiven Behinderungen des Zugangs zum Lufthansa-Portal, über das unter anderem auch Flugbuchungen abgewickelt werden, mithin zu direkten Umsatzeinbußen. Einen ganz aktuellen Fall von zwei Abschiebehäftlingen aus London schildert Marion Hamm in ihrem Beitrag in diesem Heft. Sie macht an diesem Beispiel die Vernetzung von Protest im Netz und Protest auf der Straße deutlich, der über Indymedia vernetzt wurde. Die vorgenannten Beispiele werden oftmals als Indiz dafür benannt, dass das Internet neue Protestformen ermöglicht und weit reichende Potentiale für selbst organisierte, dezentrale Kampagnenaktivitäten und neue Vernetzungen bietet. Das vorliegende Themenheft will diesen optimistischen Annahmen nachgehen und die ‚neuen Bewegungen' im Internet analysieren. Eine Grundthese, die in diesem Zusammenhang kritisch von Ann Zimmermann diskutiert wird, ist die Annahme, dass das Internet gering institutionalisierten und ressourcenschwachen Akteuren die Möglichkeit bietet, sich gleichberechtigt im Internet zu präsentieren und damit Nachteile auszugleichen, die diese Akteure im politischen Prozess hinnehmen müssen. Denn worüber die noch dominierenden Medien wie das Fernsehen und die Zeitungen berichten, haben die sozialen Bewegungen nur bedingt in der Hand. Im Internet können sie sich jedoch frei und ohne Beschränkungen - wenn man mal von der Achtung der ‚Netiquette' absieht - präsentieren. Zugleich besteht die Möglichkeit, viele Menschen direkt mit diesen Botschaften zu erreichen und für politische Kampagnen zu mobilisieren. Dabei folgt Zimmermann der Argumentation von Dieter Rucht, der sich in zwei jüngeren Veröffentlichungen mit der Wirkung des Internets auf politische Mobilisierungsstrategien auseinander gesetzt hat (Rucht 2005, van de Donk et al. 2004; beide Publikationen werden im Literaturteil dieses Heftes besprochen). Die oben genannten Annahmen setzen allerdings voraus, dass die Zugangschancen zum Internet gleich verteilt sind. Dies ist tatsächlich aber nicht der Fall. Das Internet ist zumindest in nicht industrialisierten Ländern immer noch ein Privileg der besser situierten und gebildeten Menschen (Rohde 2004, Benton Foundation 2000). Und auch für die sozialen Bewegungen sind die Chancen im Netz nicht gleich. Zwar können sie ihre Inhalte quasi ungefiltert ins Netz stellen. Doch ob die Seite tatsächlich vom Internetnutzer gefunden wird, hängt von der Sachkenntnis des Nutzers und von den Filtern der Suchmaschinen ab, die viele Nutzer durch das Internet lotsen. Die Sachkenntnis oder Medienkompetenz der Nutzer ist auch einer der kritischen Faktoren bei der Frage, inwieweit das Internet bürgerschaftliche Beteiligung an politischen Prozessen steigern kann. Markus Seifert stellt in seinem Beitrag ‚Neue Demokratie im Internet?' fest, dass das Internet in der Regel nur Menschen mit höherem Bildungsniveau dazu bringen kann, politisch aktiv zu werden - also von Menschen, die sich ohnehin eher politisch engagieren als andere. Durch diese weiterhin bestehende ‚digitale Spaltung' bleiben Potentiale, die das Internet für den politischen Prozess bietet, beispielsweise Internet-Abstimmungen oder der Dialog mit Behörden, von weiten Bevölkerungsteilen ungenutzt und verpuffen.
Vor diesem Hintergrund sind die Anstrengungen neuer sozialer Bewegungen, aber auch politischer Institutionen kritisch zu sehen, das Internet für sich zu nutzen und damit Menschen anzusprechen und zu mobilisieren. Kathrin Voss setzt sich in ihrem Beitrag mit den Auswirkungen von Online-Medien auf die interne und externe Kommunikation von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) auseinander. Demnach übersetzen die NGOs ihre sonst übliche Ansprache einfach in die neuen Medien; statt einer Mitgliederzeitschrift gibt es neuerdings also eine Internetseite und einen Newsletter, um kostengünstig Mitglieder und Interessierte zu erreichen. Die deutlich weiter reichende Einrichtung eines Intranets, in dem die Mitglieder exklusiv und passwortgeschützt informiert werden und miteinander kommunizieren können, wird hingegen selten genutzt. Damit ist der Weg über das Internet immer noch weitgehend eine ‚Einbahnstraße', über die - wie in Massenmedien üblich - ein ‚Absender' Informationen an ein ‚Publikum' verbreitet, ohne die Möglichkeiten zur Interaktion und zum Austausch mit den Adressaten hinreichend zu nutzen. Auch um Außenstehende zu mobilisieren, braucht es mehr als nur einen guten Auftritt im weltweiten Netz. Nur eine Verknüpfung von Online- und Offline-Arbeit garantiert den Erfolg. Online-Aktionen allein können die klassische Öffentlichkeitsarbeit über Presse und Fernsehen nicht ersetzen.
Durchaus kritisch beleuchtet auch Jan Schmidt in seinem Beitrag die Nutzung sogenannter ‚Social Software'. Darunter werden internetbasierte Programme verstanden, mit denen Nutzer gemeinsam Informationen sammeln und austauschen können. Im Gegensatz zu üblichen Internetseiten übernehmen hier auch die Leser Autorenfunktionen, indem sie eigene Beiträge, Kommentare und Inhalte veröffentlichen. In diesen Bereich fallen Weblogs, also Tagebücher, die im Netz unmittelbar über bestimmte Ereignisse berichten. Dabei ist es technisch möglich, dass mehrere Autoren gemeinsam in die Berichterstatterrolle schlüpfen. Mit den Weblogs verwandt sind die Podcasts, also Ton- und Bilddokumente, die ebenfalls über Ereignisse berichten. Außerdem zählen dazu Wikis, eine Art elektronischer Zettelkasten, der Informationen zu bestimmten Themen sammelt.iii Dieser wird weiterentwickelt in so genannten Kollaborativen Verschlagwortungssystemen, die dem externen Nutzer ermöglichen, anhand von Schlagworten bestimmte Informationen im Netz zu finden. Obwohl diese technischen Kommunikationsformen aktuell bereits vereinzelt im Bereich der Politik, beispielsweise im Wahlkampf, im Journalismus sowie für Protestkampagnen genutzt werden, sind sie noch sehr speziell, so dass zumindest kurzfristig nicht davon auszugehen ist, dass es zu grundlegenden Veränderungen in der politischen Kommunikation kommt.
Das zeigt auch der Beitrag von Christoph Bieber zu Weblogs und Podcasts und ihrer Rolle für die politische Kommunikation. Bieber äußert jedoch die Hoffnung, mit Weblogs und Podcasts eine eigene Veranstaltungsöffentlichkeit zu schaffen und damit die Möglichkeit zu direkter Beteiligung aller Bürger an demokratisch-politischen Prozessen umzusetzen. Allerdings zeigen gerade die Beiträge von Bieber und Schmidt auch, wie technikzentriert die neuartigen Kommunikationsformen zurzeit noch sind. Die kritische Analyse zeigt, dass im Hinblick auf konkrete Partizipation nach wie vor entscheidende Qualitätsunterschiede zwischen realen politischen Veranstaltungen und Protestformen und deren virtuellem Gegenstück im Internet existieren. Ob Weblogs den klassischen Journalismus gefährden ist mittlerweile Thema auf Journalistentreffen und auf speziellen Veranstaltungen. Julia Eikmann stellt in ihrem Beitrag dazu ihre Arbeit zur Typologisierung von Weblogs vor. Neben einer Vielzahl privater Nutzungsformen als persönliche Homepage gibt es die viel beschworene Gegenöffentlichkeit in Weblogs, die etablierte Medien nicht ersetzen, aber als gegensteuerndes Korrektiv ergänzen kann.
Neben der Gestaltung und barrierefreien Bereitstellung der genannten Kommunikationsmedien sind es insbesondere die bereits angesprochene notwendige Medienkompetenz sowie individuelle und gesellschaftliche Aneignungsprozesse, welche grundlegende und nachhaltige Veränderungen im Kommunikationsverhalten von Bürgern und politischen Akteuren determinieren werden. Hier ist noch einiges zu bewegen, ehe sich das gesamte - insbesondere das genuin interaktive - Potential des Internet wirklich für eine breite Öffentlichkeit erschließen wird.
In der aktuellen Analyse setzt sich unser Autor Gerd Mielke mit der SPD in der Großen Koalition auseinander. Vor der Rubrik Pulsschlag findet sich in diesem Heft eine Debatte zur Bürgergesellschaft. Die Beiträge dort sind durch eine Tagung der Stiftung Bürger für Bürger angeregt worden.
Ole Reißmann (Bremen), Markus Rohde(Bonn), Karin Urich (Mannheim)
i Die genannten Begriffe werden im Folgenden näher beschrieben. Sie bezeichnen web-basierte Medien und Kommunikationsformen, die detaillierter in den Beiträgen im Themenschwerpunkt dieses Heftes erläutert werden. ii Während der Begriff der ‚social software' vergleichsweise jung ist, werden Systeme zur Unterstützung von Kooperation/Interaktion in Gruppen und Gemeinschaften als ‚Groupware' oder ‚community computing' bereits seit Anfang der 1990er Jahre international in einer Forschungsdisziplin zu computer-unterstützter Zusammenarbeit (CSCW - Computer Supported Cooperative Work) untersucht. Diese Forschungsdisziplin setzt sich vorwiegend aus Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus der Informatik, der Soziologie und Psychologie, der Ethnologie und Wirtschaftswissenschaften zusammen und konzentrierte sich ein Jahrzehnt vorwiegend auf die Gestaltung von Arbeitsplätzen. Erst in den vergangenen Jahren werden hier auch verstärkt soziale Bewegungen, politische Netzwerke und NGOs in den Blick genommen (z.B. Rohde 2003). iii Eines der bekanntesten Beispiele für ein solches Wiki ist die web-basierte, selbstorganisierte Enzyklopädie ‚Wikipedia' (de.wikipedia.org).