Von Zeit zu Zeit münden die in den Disziplinen der Sozialwissenschaft geführten Debatten um Begrifflichkeiten in einen breiteren gesellschaftlichen Diskurs. [1] Dies trifft vor allem zu, wenn mit diesen Begrifflichkeiten der Übergang in ein neues Zeitalter proklamiert wird. Aktuelle Beispiele sind - neben dem allgegenwärtigen Globalisierungsdiskurs - die Diskurse um die Dienstleistungsgesellschaft, die Wissensgesellschaft, oder, konkreter auf den Bereich des Politischen bezogen, der Übergang von government zu governance, also des Regierens jenseits des Staates. Häufig sind es die Begriffe mit dem Präfix ‚post', die einen potenziellen Übergang kennzeichnen - von der industriellen zur postindustriellen Gesellschaft, von der nationalen zur postnationalen Konstellation, vom parlamentarischen System zum Postparlamentarismus.
Neuester Begriff in dieser Reihe - und im Mittelpunkt der Betrachtung dieses Heftes - ist der Terminus ‚Postdemokratie'. ‚Postdemokratie' scheint geradezu prädestiniert, eine über die wissenschaftliche community hinausgehende breite Aufmerksamkeit zu erlangen, greift der Begriff doch gleichzeitig zwei konsensuelle Überzeugungen in Wissenschaft und Gesellschaft an. Zum einen richtet er sich gegen das Verständnis von Politikwissenschaft als Demokratiewissenschaft (vgl. Münkler 2003). Zum anderen stellt er das Selbstverständnis zumindest der westlichen Gesellschaften in Frage, in denen die Demokratie als Selbstbeschreibung und Zielvorstellung des politischen Systems fest verankert ist. Dabei schien mit dem Ende der kommunistischen Regime 1989/90 der Siegeszug des liberaldemokratischen Systems gesichert; sogar das ‚Ende der Geschichte' (Fukuyama 1992) und damit der Endpunkt jeglicher ideologischer Auseinandersetzungen um die Ausgestaltung der politischen Systeme wurde beschworen. Doch diese Überzeugung währte nicht lange. Schon im Nachklang auf diesen größten welthistorischen Triumph der westlichen Demokratie, nur wenige Jahre nach dem Zusammenbruch des Ostblocks, erlangten mit einem Mal feuilletonistische Buchtitel wie ‚Das Ende der Demokratie' (Guéhenno 1994) oder ‚Die demokratische Melancholie' (Bruckner 1991) Aufmerksamkeit mit den Thesen, dass diese Demokratie an innerer Schwäche vergehen oder sich in den komplexen Ebenen globaler Politik verflüchtigen werde. Seitdem steht die Sorge um die Zukunft der Demokratie im Zentrum vieler politischer Analysen und wissenschaftlicher Publikationen. Und auch in der seriösen Politikforschung und Politischen Theorie ist mittlerweile von den Triumphbekundungen und vom demokratischen Optimismus der Jahre 1989/90 wenig übrig geblieben. Heute haben demokratietheoretische Zukunftsvisionen eher einen verängstigten Unterton, häufig geradezu etwas Trotziges. Beobachten lässt sich dies nicht nur in den internationalen Debatten über die Zukunft von Parteisystemen, über sinkende Wahlbeteiligungen oder das Erstarken des Rechtspopulismus und -radikalismus in einer Reihe demokratischer Staaten (vgl. hierzu die Aktuelle Analyse von Roland Roth zu den Bundesprogrammen gegen Rechtsextremismus), sondern sogar in den aktuellen Diskussionen über globale Erweiterungen der Demokratie. Jürgen Habermas steht mit seiner Überzeugung, dass von einer positiven Antwort auf die Frage nach der Möglichkeit einer globalen Demokratie das Projekt der Demokratie "überhaupt auf dem Spiel steht" stellvertretend für eine ganze Reihe von Autoren: "Es geht darum", so Habermas, "ob wir von der Vorstellungswelt eines politisch verfassten demokratischen Gemeinwesens überhaupt Abschied nehmen müssen" (Habermas 2005: 340).
Vor diesem Hintergrund ist es sicherlich auch kein Zufall, wenn seit kurzer Zeit eben der Begriff der Postdemokratie im politischen Vokabular die Runde macht. Das Präfix ‚post' bringt nicht nur eine Art Endzeitbewusstsein zum Ausdruck, sondern macht Platz für die in westlichen Demokratien aus vielen guten Gründen lange tabuisierte Frage, ob es politische Regimeformen geben könnte, die keine Verbesserung der Demokratie beinhalten, sondern die der Demokratie, so wie wir sie kennen, nachfolgen könnten, ohne dass sie sich deshalb zu Diktaturen, so wie wir sie ebenfalls bereits kennen, umwandeln.
Was ist von dem Begriff ‚Postdemokratie' und den Debatten, die er bislang in Gang gesetzt hat, zu halten? Zunächst ist wie immer bei terminologischen Neuschöpfungen Vorsicht angeraten. Denn dem politischen Vokabular der Gegenwart mag es möglicherweise an so manchem mangeln - an einem aber sicherlich nicht: Begriffserfindungen. Den meisten Neuschöpfungen gelingt es kaum, sich zu etablieren, und sie verschwinden gleich wieder von der Sprachbühne. Und selbst altehrwürdige, klassische Begriffe der politischen Sprache sind nicht vor dem Schicksal gefeit, dem Sprachgebrauch verloren zu gehen und ihre Existenz fortan in den Lexika der Begriffshistoriker zu fristen. Das permanente Auf und Ab politischer Begriffe ist nicht verwunderlich, denn alle Begriffe der politischen Sprache sind immer auch ‚umkämpfte Begriffe'. [2] Als Elemente des politischen Vokabulars haben sie ein doppeltes Antlitz, sind sie ‚evaluative-descriptive terms' (vgl. Skinner 2002: Kap. 8). Politische Begriffe sind nicht einfach sachliche Bezeichnungen für politische Phänomene, sondern sie drücken in ihrer Verwendung zugleich auch immer starke bewertende Urteile aus. Keine noch so sehr auf wissenschaftliche Neutralität zielende Begriffswahl kann diesen performativen Charakter politischer Begriffe ausschalten.
Die Rolle sozialer Bewegungen kann bei den Karrierewegen politischer Begriffe gar nicht hoch genug veranschlagt werden. Leider gibt es bis heute noch keine begriffsgeschichtliche Studie, die die konkrete Rolle von politischen Akteuren bei der erfolgreichen Etablierung eines neuen politischen Vokabulars systematischer in den Blick nimmt. Dabei bieten sich mittlerweile genügend Anknüpfungspunkte für begriffsgeschichtliche Studien, die auf die eminente Bedeutung von sozialen Bewegungen bei terminologischen Umbrüchen hinweisen. Genannt seien im deutschsprachigen Raum nur die begriffsgeschichtlichen Analysen im Anschluss an die Edition der ‚Geschichtlichen Grundbegriffe' - und hier insbesondere die Arbeiten Reinhart Kosellecks -, aus der englischen Traditionslinie die Arbeiten zur Diskursanalyse Quentin Skinners und seiner Schüler sowie in den USA die konzeptanalytischen Studien von Melvin Richter. In der Forschung zeichnen sich seit einigen Jahren erfreuliche Trends ab, sich zum einen von der nationalen Orientierung in der Begriffsgeschichte zu lösen und zum anderen auch die Rolle sozialer Bewegungen und anderer politischer Akteure für Veränderungsprozesse in politischen Vokabularen sozialgeschichtlich zu untersuchen. [3] Neuere Beispiele für Begriffsanalysen, die sozialen Bewegungen eine ausschlaggebende Rolle bei der Etablierung oder Umdeutung politischer Schlüsselbegriffe zuerkennen, reichen von Bezeichnungen aus der Sprache der sozialen und politischen Statusverortung - z.B. ‚Arbeiter' im späten 19. Jahrhundert (vgl. Kocka 1990) - über Termini aus der Staatsformenlehre - z.B. ‚Demokratie' nach der Französischen Revolution (vgl. Dunn 2005; Rosanvallon 2006) - bis zur neueren Karriere des Begriffs ‚Zivilgesellschaft', dessen Erfolg und verschiedene Bedeutungsgehalte ohne den Rekurs auf soziale Bewegungen, die dieses Wort im Munde führten, ebenfalls nicht zu verstehen ist (vgl. Klein 2001).
Nun ist der Begriff ‚Postdemokratie' beileibe nicht so alt oder arriviert, dass er schon eine begriffsgeschichtliche Aufarbeitung bedürfte. Auch ist der Begriff noch viel zu unerprobt, um mehr als Vermutungen darüber anstellen lassen zu können, ob und auf welchem Niveau er sich in der Sprache der Politik zukünftig etablieren könnte. Dies ist der Anlass, ihn zum Schwerpunktthema dieses Heftes des Forschungsjournals zu machen. Dabei geht es weder darum, einer affirmativen Begriffsverwendung Vorschub zu leisten, gar einen möglichen Übergang von einem demokratischen in ein postdemokratisches Zeitalter zu begrüßen, noch geht es darum, den Begriff mit diesem Heft fest im öffentlichen wie wissenschaftlichen Diskurs zu etablieren. Ebenso wenig soll das Instrumentarium der historischen Begriffsanalyse dazu missbraucht werden, einen gerade erst um Anerkennung ringenden Terminus künstlich mit historischer Patina zu belegen; vielmehr soll es genutzt werden, um den Begriff präziser befragen zu können: Was genau bezeichnet der Begriff ‚Postdemokratie'? Wozu taugt er? Erfahren wir mit dem Begriff mehr über die Probleme und Zukunft der Demokratie, als wir bereits ohne ihn wissen? Welche politischen Ambitionen verbinden sich mit der Begriffsverwendung? Und welche Chancen oder Anknüpfungspunkte bietet der Begriff für soziale Bewegungen und andere politische Akteure?
Die beteiligten Autoren und Autorinnen der in diesem Heft dokumentierten Debatte über den Begriff Postdemokratie gelangen zu ganz unterschiedlichen Antworten auf die aufgelisteten Fragen. Frank Nullmeier und Hubertus Buchstein skizzieren einleitend den bisherigen Stand der Postdemokratie-Debatte und die konkurrierenden Begriffsverwendungen. Emanuel Richter erläutert in seinem Beitrag, warum er die Verwendung des Begriffs für irreführend und theoriepolitisch geradezu fatal hält - der Begriff stellt sich seines Erachtens außerhalb des demokratischen Leitbildes und läuft somit Gefahr, für bedenkliche ideologische Absichten verwendet zu werden.
Demgegenüber verteidigt Dirk Jörke dessen produktive politische Funktion und reklamiert dessen Potenzial für die empirische Politikforschung. Durch einen ‚warnenden Gebrauch' von Postdemokratie könnten Funktionsstörungen heutiger demokratischer Systeme pointiert aufgezeigt werden. Karsten Fischer konzentriert sich in seinem Beitrag vor allem auf die Rolle nicht-staatlicher Akteure in den gegenwärtigen Veränderungsprozessen von Demokratien und der Funktion, die den Reden von der ‚Postdemokratie' darin zukommen. Fischer kritisiert die Hinwendung zu netzwerkartigen Formen von Politik, die mit einer Einbeziehung nichtstaatlicher Akteure einhergeht, da diese Akteure nicht zur Rechenschaft gezogen werden können und damit wichtige Elemente demokratischer Politik ausgehebelt werden.
Ingrid Wehr zeigt für die Demokratiedebatte in Lateinamerika, dass die Krisenanalyse der hiesigen Debatte durchaus geteilt, aber stärker nach den vorhandenen Möglichkeiten gesellschaftlicher Selbstbestimmung gesucht wird. Dies, so ihr Fazit, sei vor allem den unterschiedlichen Erfahrungswelten der Forscherinnen und Forscher geschuldet: In Lateinamerika würde die Demokratieforschung immer noch vom Ernstfall autoritärer und totalitärer Erfahrungen aus betrieben. Auch terminologische Alternativen sind Thema dieses Heftes. Ingolfur Blühdorn ist der Begriff Postdemokratie nicht konsequent genug; er schlägt ‚simulative Demokratie' als besser geeigneten Terminus vor. In den Begriff der ‚Postdemokratie' sei das Lamento über das (vermeintlich) verloren gegangene ‚goldene Zeitalter der Demokratie' zu stark enthalten, um eine tatsächliche analytische Kraft zu entfalten.
Den Abschluss des Themenschwerpunktes markiert der Beitrag von Claudia Landwehr, die die Frage aufwirft, ob es nicht bestimmte Politikfelder gibt - in ihrem Fall ist es die Gesundheitspolitik -, in denen trotz hochkomplexer und hochpolitischer Entscheidungen nicht allein auf expertokratische Lösungen vertraut werden darf, sondern demokratische Verfahren mit einbezogen werden können und zu besseren Politikergebnissen führen. Auch im weiteren Verlauf des Heftes wird der Demokratieschwerpunkt verfolgt. Im Pulsschlag bestreitet Cordula Janowski die Vorstellung, die EU sei auf einem unumkehrbaren Weg zur Postdemokratie. Vielmehr müssten (und könnten!) sich die Mitgliedstaaten auf ein Mehr an Demokratie einigen und entsprechende Maßnahmen umsetzen - dafür müssten sich aber vor allem die nationalen Parlamente auf ihre zentrale Rolle im Politikprozess besinnen. Dass die Frage nach dem Zustand und der Zukunft der Demokratie höchst umstritten ist, zeigen die Sammelrezensionen von Thorsten Thiel und Oliver Flügel. In ihnen werden die unterschiedlichen Dimensionen und die zum Teil gegenläufigen Diagnosen und Handlungsaufforderungen sichtbar, die im wissenschaftlichen Diskurs um die Demokratie enthalten sind.
Hubertus Buchstein (Greifswald), Frank Nullmeier (Bremen) (Gastherausgeber) Ansgar Klein (Berlin), Jan Rohwerder (Aachen)
Anmerkungen
- Wir danken Stefan Niederhafner und Tobias Quednau für ihre Hilfe bei der Erstellung dieses Heftes.
- Zu aktuell umkämpften Schlüsselbegriffen der Politik vgl. Göhler et al. 2004.
- Vgl. als eine erste Zwischenbilanz die Beiträge in Hampsher-Monk et al. 1999.
Zitierte Literatur
- Bruckner, Pascal 1991: Die demokratische Melancholie. Hamburg: Junius.
- Dunn, John 2005: Setting the People Free. The Story of Democracy. London: Atlantic Books.
- Fukuyama, Francis 1992: Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir? München: Kindler.
- Göhler, Gerhard/Iser, Mattias/Kerner, Ina 2004: Politische Theorie. 22 umkämpfte Begriffe. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften.
- Guéhenno, Jean-Marie 1994: Das Ende der Demokratie. München: Artemis und Winkler.
- Habermas, Jürgen 2005: Eine politische Verfassung für die pluralistische Weltgesellschaft? In: ders.: Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 324-365.
- Hampsher-Monk, Iain/Tilmans, Karin/van Vree, Frank 1999: History of Concepts: Comparative Perspectives. Amsterdam: University Press Amsterdam.
- Klein, Ansgar 2001: Der Diskurs der Zivilgesellschaft. Opladen: Leske + Budrich.
- Kocka, Jürgen 1990: Arbeitsverhältnisse und Arbeiterexistenzen - Grundlagen der Klassenbildung im 19. Jahrhundert. Bonn: Dietz.
- Münkler, Herfried 2003: Geschichte und Selbstverständnis der Politikwissenschaft in Deutschland. In: ders. (Hg): Politikwissenschaft. Ein Grundkurs. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 13-54.
- Rosanvallon, Pierre 2006: Democracy Past and Future. New York: Columbia University Press.
- Skinner, Quentin 2002: Visions of Politics. Volume 1: Regarding Method. Cambridge: Cambridge University Press.