‚68‘ ist historisches Ereignis und Knotenpunkt zeitgenössischer politischer Diskurse zugleich. Die Frage danach, wie es denn eigentlich gewesen ist, ist daher mit mehr oder minder expliziten Stellungnahmen in der Selbstverständigung der heutigen Bundesrepublik zumeist eng verflochten. Daher wandelt sich das Gesicht von ‚68‘ in Abhängigkeit von den je aktuellen Fragen und Kontexten im Laufe der Zeit und der Abfolge seiner Jubiläen erheblich. Einmal wollen bis in die Union hinein alle irgendwie auch 68er gewesen sein, das andere Mal will es keiner gewesen sein und wird bis in linke Kreise hinein Distanz gewahrt. Nicht nur polarisiert ‚68‘ auch angesichts einer beginnenden Historisierung weiterhin zwischen den politischen Richtungen. Auch die Aspekte, die überhaupt als relevant betrachtet werden, unterliegen erheblichen Veränderungen. Von einem allmählichen Verblassen in den Annalen der bundesdeutschen Geschichte kann trotz des Alterns der Protagonisten bei alledem allerdings keine Rede sein – auch dieses Jahr füllt ‚68‘ Büchertische, Fernsehdokumentation, Ausstellungen und Symposien. ‚68‘ ist und bleibt ein Gegenstand der bundesdeutschen Diskurspolitik. Hier zeichnen sich noch Spuren dessen ab, was Jürgen Habermas 1968 als ‚unmittelbares Ziel des Studenten- und Schülerprotestes‘ bezeichnet hat: ‚die Politisierung der Öffentlichkeit‘ (Habermas 1969: 189).
Zielrichtung und Folgen der 68er Jahre sind umstritten und reichen von der These der fahrlässigen Zerstörung von verbindlichen Werten, unhinterfragten Autoritäten und Zukunftsvertrauen bis hin zur Annahme einer Fundamentalliberalisierung und der demokratischen Nachgründung der Bundesrepublik in Mentalitäten und Habitusformen der Bundesbürger – mithin der politischen Kultur. Es ist daher nicht nur der besonderen Koinzidenz zweier Jubiläen, des 40. von 1968 und des 20. des Forschungsjournals Neue Soziale Bewegungen geschuldet, dass sich das Forschungsjournal in diesem Themenheft mit einer Reihe von Beiträgen in die Schlussphase der aktuellen Deutungskonflikte einschaltet. Dass das Journal im Zuge der Entstehung der neuen sozialen Bewegungen gegründet wurde und im Unterschied zu einer Reihe von politisch-wissenschaftlichen Zeitschriften – wie dem kürzlich eingestellten Kursbuch – nicht direkt mit ‚68‘ verbunden ist, bietet beste Voraussetzungen für eine erhellende Analyse: Weit genug entfernt, um nicht in längst geschlagene Schlachten verstrickt zu sein und nah genug, um im Deutungsstreit um ‚68‘ dessen symbolische Bedeutung für die politische Kultur der Bundesrepublik, für bürgerschaftliches Engagement und politische Partizipation im Auge zu behalten.
In der Zusammenstellung der Beiträge und Autoren zu diesem Themenschwerpunkt hat die Redaktion daher auch weniger auf die größtmögliche Nähe zur allein selig machenden 68er- Deutung oder auf den spektakulären Bruch mit für sicher gehaltenen Annahmen Wert gelegt. Wir waren vielmehr auf die Zeichnung eines ebenso differenzierten wie fundierten Bildes bedacht, das der diskurspolitischen Aufladung der politischen Erinnerung Rechnung tragen kann. Manche Beiträge argumentieren daher stärker aus historiographischer Distanz, andere aus der Nähe zur politischen Aktualität. Einige Autoren und Autorinnen lassen eigene biographische Erfahrungen in ihre Analyse einfließen, wo andere sich als später Geborene einen Reim auf die Vor- oder Frühgeschichte ihrer eigenen Lebensspanne machen. Keinem der Autoren und Autorinnen geht es – sei es positiv, sei es negativ – um Mythenbildung, um Verklärung oder Verdammung. Bei aller instruktiven Unterschiedlichkeit liefern aber alle Beiträge mehr oder minder explizit nicht nur Antworten auf die Frage, was ‚68‘ für uns bedeutet, sondern auch zu 4 Editorial der Frage, ob ‚mehr Demokratie wagen‘ jenseits von 1968 ein auch heute weiterhin gültiges Programm ist.
Die Annahme, dass ‚68‘ einen wichtigen Schritt der Liberalisierung und Demokratisierung der Bundesrepublik bedeutete, muss damit nicht in die Mythologisierung und retrospektive Idealisierung führen, sondern kann auch den Auftakt zu einer kritischen Auseinandersetzung und differenzierten Bewertung darstellen. Die Bilanzen der diskurspolitischen Konjunkturen des aktuellen Jubiläumsjahrs demonstrieren aber dennoch eindrücklich, dass der Weg der Historisierung von 1968 zwar durch eine ganze Reihe profunder zeitgeschichtlicher Analysen ein ganzes Stück weiter geführt wurde, mitnichten aber an ein Ende gekommen ist. Günther Mittler und Edgar Wolfrum sowie Albrecht von Lucke zeichnen die auch emotional hochgradig aufgeladenen aktuellen Deutungskämpfe um das Geschichtsereignis anschaulich nach. Das Schielen auf mediale Aufmerksamkeit hat in diesem Jahr offenbar besonders bizarre Blüten getrieben. Unter weitgehender Ausklammerung der globalen Reichweite des Protestjahres wurde das bundesrepublikanische ‚68‘ zu einem primär deutschen Phänomen und zum Spätausläufer der nationalsozialistischen Herrschaft [1] deklariert. Dass dabei die außerparlamentarische Orientierung und die Bewegungsförmigkeit des Studentenprotestes dazu genutzt wurden, soziale Bewegungen pauschal in eine assoziative Nähe zur Nazi-Bewegung zu rücken, als ob es eine Aufklärungs-, Arbeiter- oder Frauenbewegung oder die neuen sozialen Bewegungen nie gegeben hätte, markiert dabei eine für die Protestforschung besonders pikante Wendung und zweifelsohne eine Fehldeutung.
Karl-Werner Brand zeigt demgegenüber sehr eindrücklich Kontinuitätslinien und Brüche zwischen Studentenbewegung und neuen sozialen Bewegungen auf. Selbstverständlich gehören in die bundesdeutsche Bewegungs- und Beteiligungsgeschichte auch die mobilisierungsstärkeren Proteste der unmittelbaren Nachkriegszeit. Auch grenzten sich die neuen sozialen Bewegungen gegenüber der Kaderpolitik der K-Gruppen – als den Zerfallsprodukten der Neuen Linken – ab. Die antiautoritären und gegenkulturellen Impulse der studentischen Aufbruchsbewegung finden aber in den neuen sozialen Bewegungen eine Fortsetzung, die schließlich zu einer ‚Normalisierung des Unkonventionellen‘ im Rahmen einer Bewegungsund Bürgergesellschaft führt. Einen Widergänger des autoritären Führerstaates wird man hier schwerlich finden – eher schon eine Ressource zur Bewältigung zeitgenössischer Herausforderungen der Demokratie.
Dennoch ist der Nationalsozialismus ein zentraler Faktor zur Erklärung der Besonderheiten des bundesdeutschen ‚68‘ – und zwar als Gegenstand der Abgrenzung seitens der 68er-Akteure. Jens Kastner beleuchtet in seinem Beitrag die in mehrfacher Hinsicht konstitutive Rolle des Nationalsozialismus und seiner Nachgeschichte für die Protestbewegung. Er kritisiert eine verkürzende Darstellung der Auseinandersetzung der 68er mit dem Nationalsozialismus als eines bloßen Generationenproblems. Kastner argumentiert, dass selbst die Entstehung einer fiktiven Generationeneinheit noch das Ergebnis generationenübergreifender sozialer Kämpfe und Konflikte mit über das Datum des Geburtsscheins hinausweisenden Inhalten ist, bei deren Erschließung die konzeptuellen Mittel der Bewegungsforschung weiter führen als der Ansatz an Generationen.
Sehr fassbar wird die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus auch in Wolf-Dieter Narrs Analyse des unmittelbaren Kontextes der Studentenproteste: der Universität. Er unterstreicht die bei allen Ambivalenzen ausgeprägte Bindung des studentischen Protestes an den ‚besseren Geist‘ einer an Autonomie und Mündigkeit orientierten Universität, die die Studenten nicht nur zum Aufstand gegen den vielzitierten ‚Muff unter den Talaren‘ in Form der Editorial 5 nach 1945 nahezu bruchlos restaurierten Ordinarienuniversität trieb – ein Muff, der vielleicht nicht zufällig als ebenso ‚tausendjährig‘ bezeichnet wurde wie das kurzlebige ‚tausendjährige Reich‘. Unter exzessivem Rückgriff auch auf die durch den Nationalsozialismus unterdrückten Denktraditionen erprobten die Studenten die Kritik und die qualitative Veränderung des herrschenden Wissenschaftsbegriffs – freilich ohne weitreichende Folgen für die Institution der Universität.
Auch Barbara Schaeffer-Hegel beschreibt einen 1968 in Gang gekommenen enormen Schub intellektueller und wissenschaftlicher Kreativität. Der SDS, der die Auseinandersetzung um die Demokratisierung der Hochschulen schon 1961 aufgenommen hatte, musste nun allerdings manche Feder lassen: In Nähe und Distanz zur männlich dominierten Studentenbewegung zugleich machte sich die neue Frauenbewegung mit eigenen Ideen und Protestformen auf den Weg der Emanzipation. Während Narr das mit dem heutigen Bologna-Prozess besiegelte Scheitern des Aufbruchs in den Vordergrund stellt, sieht Schaeffer-Hegel gerade mit der nach 1968 an Fahrt aufnehmenden Frauenpolitik eine zwar unabgeschlossene, insgesamt aber enorm folgen- und auch erfolgreiche Veränderung intellektueller, organisatorischer und auch persönlicher Art ins Werk gesetzt.
Gottfried Oy verlässt mit seiner eingehenden Rekonstruktion eines zentralen politischen Motivs der Neuen Linken – dem international einflussreichen Konzept der Selbstorganisation – den Bezugsrahmen der primär akademischen Wirkungsgeschichte. Im Motiv der Selbstorganisation bündelt sich zugleich eine relative Abgrenzung gegenüber der traditionalistischen Linken wie ein Vorgriff auf heutige Veränderungen. Damit geht Oy noch einen Schritt hinaus über die Basiserzählung einer geglückten Liberalisierung und fragt nach unabgegoltenen Emanzipationsversprechen der Neuen Linken. Mit dem Sozialistischen Büro (SB) und dessen ‚Arbeitsfeldansatz‘ beleuchtet er eine fraktionsübergreifende Plattform der Neuen Linken, die ein Alternativmodell gegenüber erstarrten progressiven Allgemeinplätzen entwickelte und ein Scharnier zur Entstehung der neuen sozialen Bewegungen darstellte. Zugleich wertet er dieses 68er- Konzept aber auch mit Blick auf dessen widersprüchlichen Einbau in heutige Organisationsund Arbeitsmodelle aus.
Dass ‚68‘ ein globales Ereignis war, kann in der geschichtswissenschaftlichen Forschung heute fast schon als Binsenwahrheit gelten. Die Vorläufer des globalen Aufbruchs in der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung oder der zentrale Stellenwert der Opposition gegen den Krieg in Vietnam sind vielfach ausgeleuchtet worden. Sieht man aber vom Prager Frühling ab, dann erscheint ‚68‘ in der Regel als ein fast ausschließlich westliches Phänomen. Dabei ergeben sich aus der östlichen Traditionslinie, die von 1968 zur Zivilgesellschaftsdiskussion vor 1989 führt, besondere Perspektiven auf das unabgegoltene Versprechen dieses sich in Kürze zum 20. Mal jährenden, ebenfalls symbolträchtigen Jahres. Diese zivilgesellschaftlichen Perspektiven enthalten zugleich einen klaren demokratiepolitischen Einspruch gegen eine konservative Instrumentalisierung von ‚68‘ und ‚89‘ unter nationalen Vorzeichen.
Eckhard Jesse untersucht das Verhältnis zwischen ‚68‘ und den Bürgerbewegungen in der DDR. Nicht nur kam eine der Lichtgestalten der westdeutschen Studentenbewegung, Rudi Dutschke, aus der DDR und hat sich auch nach 68 mit den Ursprüngen des östlichen Sozialismus als Sozialist kritisch auseinandergesetzt. Auch die DDR hatte ihr ‚68‘, das – verglichen mit dem Prager Frühling – jedoch eine Randerscheinung blieb und keine tiefgreifenden Prägungen hinterließ. Dennoch wirkten sich neben den tschechoslowakischen Impulsen auch im Westen verbreitete Konzepte eines ‚dritten Weges‘ auf die Bürgerrechtler der DDR aus. Es ist also kein Zufall, dass diese innersozialistische Opposition sich im Blick auf die Bundesrepublik vor allem den Spätausläufern der 68-Bewegung bei den Grünen nahe fühlte. Das Jahr ‚89‘ eignet sich insofern nicht als Kontrastmittel zu ‚68‘; es wurde in der DDR nicht zuletzt von Akteuren vorbereitet, die frappierende Ähnlichkeiten mit den bundesdeutschen 68ern aufwiesen, sich allerdings in einem politischen System bewegten, das nicht fähig war, sich demokratisierende Impulse anzuverwandeln.
Auch Helmut Fehr zeichnet Verbindungslinien zwischen 1968 und 1989 nach. In Polen und der Tschechoslowakei, die im Fokus seiner Analyse stehen, waren beide Jahre durch bemerkenswerte Mobilisierungen und Initiativen geprägt. Es zeigen sich dort ebenfalls personelle und ideelle Prägungen der 89er-Bewegungen durch die gut zwanzig Jahre zuvor entfalteten Mobilisierungen. 1968 artikulierte sich eine neue politische Generation, die Selbstorganisierung, Pluralismus, Dialog und Bürgerrechte zu ihrem Programm machte und auch politische und kulturelle Traditionen miteinander verband. Auch der Prager Frühling wird erst durch die Initiativen von unten, nicht nur durch reformerische Anstrengungen der Eliten verständlich. Die Charta 77 in der Tschechoslowakei und Solidarnosc in Polen wurden wesentlich von dieser Personengruppe getragen und bildeten in ihren Ländern Scharnier und Zwischenetappe in Richtung auf die Bürgerbewegungen von 1989. Einer fehlenden Politisierung lebensweltlicher Fragen – etwa von Familienstrukturen und kulturellen Hierarchien – korrespondierte in beiden Ländern zugleich eine besondere Auffassung von nationaler Unabhängigkeit, im Rahmen derer die Rolle der USA geradezu mythisiert wurde und eine kritische Auseinandersetzung mit dem Vietnam-Krieg ausblieb. In den Milieus der ehemaligen Dissidenten setzt sich diese Haltung bis heute etwa in einer gegenüber völkerrechtlichen Fragen gleichgültigen Distanzlosigkeit zum Irak-Krieg als vermeintlich gerechtfertigtem Auftakt zu einem antitotalitären Regimewechsel fort.
In einem abschließenden Block des Themenschwerpunktes kommen nach primär politischen und historischen Analysen von ‚68‘ stärker kulturwissenschaftliche Perspektiven zum Zug. Diese Beiträge zeigen, dass eine veränderte paradigmatische Perspektive bisher nicht ausreichend gewürdigte Dimensionen von ‚68‘ in das Blickfeld rücken kann. Kathrin Fahlenbrach, Martin Klimke und Joachim Scharloth führen das Potential einer kulturwissenschaftlichen Perspektive, deren Beitrag sie auch im Vergleich zu eingebürgerten Konzepten der Protestforschung demonstrieren, an drei Fallbeispielen vor Augen: Der Praxis der Ritualstörung, dem Wechselverhältnis von Protestmobilisierung und Medieninszenierungen und der Transnationalisierung des Symbolrepertoires der Bewegung. Die Kontroversen über die produktiven oder kritikwürdigen politischen Folgen von ‚68‘ erweisen sich mit dieser kulturwissenschaftlich induzierten Veränderung des Blickwinkels auf ‚68‘ als eine sehr begrenzte Teilperspektive. Mit seiner spezifischen Performativität und der Erweiterung des Spektrums kulturell-symbolischer Praxisformen hat ‚68‘ nämlich ganz jenseits seines politischen Gehalts erhebliche kulturelle Impulse gegeben. Diese haben den Zeitgeist allerdings keineswegs immer gegen den Strich gebürstet. Im Rahmen einer medienhistorischen Schwellensituation wurden sie von diesem vielmehr geradezu induziert und massiv befördert.
Sven Reichardt verfolgt diese kulturelle Wirkungsdimension über 1968 hinaus in das linksalternative Milieu der späten 1960er und der 1970er Jahre. Schon quantitativ war dieses Milieu mitsamt seiner Lebensstile und Habitusformen weitaus umfangreicher als die kleinen Politorganisationen dieser oder jener Art. Unter dem Vorzeichen der ‚Authentizität‘ wurde eine Art ‚Verhaltenslehre der Wärme‘ eingeübt, die sich vor dem Hintergrund wirtschaftlicher Sicherheit von den Lebensformen der Konsumgesellschaft absetzen wollte. Jenseits polemischer Ablehnung oder emphatischer Identifikation mit diesem Milieu kann Reichardt aber zugleich rekonstruieren, dass der linksalternative Lebensstil weder einfach ein Aufbruch ins Land der Freiheit, noch ins Reich der Normlosigkeit war. Es handelte sich vielmehr um eine Form der Selbstführung und ‚Gouvernementalität‘ mit je eigenen Widersprüchen und Zwängen.
Auch die Literaturrubrik nimmt den Themenschwerpunkt des Heftes auf und stellt in zwei größeren Sammelbesprechungen Neuerscheinungen sowohl zu den 68er-Protesten wie auch zu den neuen sozialen Bewegungen vor. Albrecht Lüter und Karin Urich haben einen genauen Blick in Publikationen aus dem aktuellen Jubiläumsjahr geworfen. Jochen Roose stellt drei Neuerscheinungen vor, die die Bewegungsforschung der vergangenen Jahrzehnte resümieren: das Handbuch ‚Die Sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945‘ von Roland Roth und Dieter Rucht, ‚Soziale Bewegungen. Ursachen, Wirkungen, Mechanismen‘ von Thomas Kern und schließlich die Veröffentlichung von David Snow, Sarah Soul und Hanspeter Kriesi ‚The Blackwell Companion to Social Movements‘.
Selbst wenn dieses Themenheft sich in der zweiten Jahreshälfte in die aktuelle 68er-Debatte einschaltet, wäre angesichts der ebenso prägenden wie kontroversen Folgen des Protestjahres die Erwartung offensichtlich vermessen, das letzte Wort gesprochen zu haben. Die Fol8 Editorial gen des kulturellen Aufbruchs auch auf die nicht direkt Beteiligten dürften nämlich auch in Zukunft für Kontroversen sorgen. Womöglich kommen ja entscheidende Impulse wie schon in den frühen 1960er-Jahren auch zukünftig wieder aus den USA, wo der – wie einst Martin Luther King oder John F. Kennedy – umschwärmte Präsidentschaftskandidat Barack Obama zwar spätere Reifeprozesse ausdrücklich zu Protokoll gibt, sich aber zugleich als ein seinerzeit vom Geist der ‚Sixties‘ bewegter Jugendlicher zu erkennen gibt: „I became fascinated with the Dionysian, up-for-grabs quality of the era, and through books, films, and music, I soaked in a vision of the sixties very different from the one my mother talked about: images of Huey Newton, the ’68 Democratic National Convention, the Saigon airlift and the Stones at Altamont. If I had no immediate reason to pursue revolution, I decided nevertheless that in style and attitude I, too, could be a rebel, unconstrained by the received wisdom of the over-thirty-crowd.“ (Obama 2006: 30)
Das Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen, das im zweiten Schwerpunkt des Heftes seinen Geburtstag begeht, dürfte die Aufmerksamkeit nicht nur dieses Herausforderers verdient haben: Gerade 20 Jahre alt geworden, ist es aus den Kinderschuhen heraus, ohne deshalb zum alten Eisen zu gehören.
Albrecht Lüter (Berlin), Karin Urich (Mannheim)
Anmerkungen
1. Unter dem Titel ‚Die Parallelisierung von 1933 und 1968 – ein Binsenirrtum‘ haben Peter Grottian, Wolf-Dieter Narr und Roland Roth in der Frankfurter Rundschau vom 9. Februar 2008 nötige Korrekturen an diesem von Götz Aly lancierten und mehr als eigenwilligen Deutungsmuster angebracht.[zurück]
Literatur
- Habermas, Jürgen 1969: Protestbewegung und Hochschulreform. Frankfurt/Main: Suhrkamp.
- Obama, Barack 2006: The Audacity of Hope. Thoughts on Reclaiming the American Dream. New York: Three Rivers Press.
Der Sonderteil unseres Jubiläumsheftes
Anlässlich des 20jährigen Bestehens des Forschungsjournals hat die Redaktion Beirat und Herausgeber der Zeitschrift um Beiträge gebeten. Warnfried Dettling hat unsere Einladung für eine Bestandsaufnahme zur ‚Zukunft der Demokratie‘ genutzt, die sich in unserer Rubrik ‚Aktuelle Analyse‘ wiederfindet.
Andreas Buro rekapituliert Geschichte und Themen der Friedensbewegung, die sich heute v.a. mit Fragen der zivilen Konfliktbearbeitung auseinandersetzen muss. Heidemarie Wieczorek- Zeul analysiert die Rolle von sozialen Bewegungen und NGOs in der Entwicklungspolitik. Wolfgang Thierse plädiert für eine durch Partizipation und Engagement gestärkte politische Kultur als Gegengewicht zu ökonomischem Druck, einer Erosion des sozialen Zusammenhalts und dem schwindenden Vertrauen in die politische Gestaltungskraft. Deutlich wird vor diesem Hintergrund die Bedeutung einer entsprechenden demokratiepolischen Agenda.
Thomas Leif, im Jahr 1987 einer von mehreren Gründungsinitiatoren des Forschungsjournals, hat auch die Gründung der Organisation ‚netzwerk recherche‘ (nr) maßgeblich initiiert und ist seitdem Vorsitzender dieser Organisation. netzwerk recherche hat sich zu einem bedeutenden medienpolitischen Akteur in Deutschland entwickelt, der die Ansprüche eines kriti9 schen Journalismus stärken will. Mit seinen Jahreskonferenzen in Hamburg und dem jährlich in Mainz stattfindenden ‚MainzerMedienDisput‘ sind bedeutende nationale Foren für den investigativen Journalismus, eine kritische Öffentlichkeit und für daran anschließende medienpolitische Diskurse entstanden. Vor diesem Hintergrund stellt Leif die Anforderungen an den ‚Recherche-Journalismus‘ vor.
Jörg Rohwedder und Felix Kolb stellen die Arbeit der ‚Bewegungsstiftung‘ dar. Deren Gründung und Arbeit hat das Forschungsjournal von Anfang an mit größtem Interesse verfolgt. Christian Lahusen, Heike Walk und Ansgar Klein berichten über die Aktivitäten des Arbeitskreises Soziale Bewegungen in der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft (DVPW). Der Arbeitskreis arbeitet seit den 1990er Jahren eng mit dem Forschungsjournal zusammen.
Ansgar Klein, der seit Mitte der 1990er Jahre als eine Art geschäftsführender Herausgeber des Forschungsjournals fungiert, rekapituliert in einem umfangreicheren Beitrag den eigenen wissenschaftlichen, publizistischen und politischen Werdegang. Er stellt dabei konzeptionelle Hintergründe aus Ideengeschichte, Demokratietheorie und politischer Soziologie dar, die das Forschungsjournal in seiner 20jährigen publizistischen Tätigkeit mit geprägt haben.
Ansgar Klein stellt zum Abschluss des Sonderteils die nunmehr über 20jährige Arbeit des Forschungsjournals in einer Zwischenbilanz vor. Der Beitrag zeichnet die Entwicklung der Zeitschrift, des Redaktionsteams, der Partner-Netzwerke sowie die inhaltliche Entwicklung der Zeitschrift nach. Diese Darstellung wird ergänzt durch Übersichten zu den bisher erschienenen Themenheften des Forschungsjournals, zu den im Kontext des Forschungsjournals erschienenen Buchpublikationen sowie zu den Fachtagungen, Fortbildungsveranstaltungen und Kongressen, die das Forschungsjournal in alleiniger Regie oder auch in Kooperationsverbünden durchgeführt hat.
Ansgar Klein (Berlin) für die Herausgeber
Tobias Quednau (Berlin) für die Redaktion