Jede Woche finden in der Bundesrepublik mehrere Demonstrationen von Rechtsradikalen statt. Darunter ist kaum eine, die keine Proteste auf sich zöge. Solche Gegendemonstrationen werden nicht selten von Menschen aus allen politischen Lagern getragen, häufig sind sie zahlenmäßig größer als die der Rechten. Sympathiebekundungen für die rechten Demonstranten haben in solchen Situationen Seltenheitswert. Auf der Straße sind die Fronten eindeutig: hier die Toleranten, Demokraten und Antifaschisten, dort die Verfassungsfeinde, Gewalttäter und Ewiggestrigen. Was passiert aber, wenn sich der Fußballtrainer als Mitglied einer Kameradschaft erweist, wenn die Tanzgruppe auf dem Volksfest die Zuschauer als Volksgenossen begrüßt oder wenn in der Bürgerinitiative Gentechnik als Massenvernichtungsmittel der Globalisierer bezeichnet wird? In solchen Alltagssituationen sind die Reaktionen gegenüber Rechtsradikalen deutlich verhaltener. Mancherorts wird das Engagement von Rechten in Vereinen, Elternräten und Bürgerinitiativen toleriert, ihre Positionen bleiben unwidersprochen. Das Verbot rechtsradikaler Organisationen und die weitgehende Ächtung rechter Gewalt haben in der Szene zu einem Strategiewechsel geführt. NPD-Kader und Kameradschaften üben sich in Graswurzelarbeit. Sie nehmen kommunale Themen auf, bieten Jugendlichen Freizeitangebote und bringen sich in lokale Gemeinschaften ein. Aber ist das Engagement von Rechtsradikalen per se rechtsradikales Engagement? Durchaus - denn es geschieht, um Einfluss auf Diskussionen und Stimmungen zu nehmen. Die ehrenamtliche Arbeit hat – genau wie die ostentative öffentliche Präsenz auf Plätzen, vor Schulen und in Veranstaltungen - den Sinn, die Wahrnehmung im Alltag zu verschieben, rechte Deutungsmuster zu etablieren und menschenfeindliche Positionen als akzeptabel vorzustellen. Das Engagement ist aber nicht bloße Strategie, sondern es ist auch eine Vorwegnahme der volksgemeinschaftlichen Utopie – nach innen sorgt eine homogene Gruppe füreinander, nach außen tritt sie aggressiv für die Aufrechterhaltung der Homogenität und für ihre Interessen ein.
Der Schwerpunkt dieses Heftes greift diese Entwicklung auf. Angesichts der Neuorientierung in der rechtsradikalen Szene und angesichts von Gleichgültigkeit oder Hilflosigkeit in den betroffenen Kommunen scheint ein Perspektivwechsel angebracht. Anstatt das Problem ausschließlich in rechtsradikalen Organisationen zu verorten, anstatt Rechtsradikalismus auf Devianz zu verkürzen, muss man die organisatorische und kulturelle Verankerung von Rechtsradikalismus in den Blick nehmen. Das Phänomen kommt nicht nur an den Rändern vor, wie der Begriff Extremismus suggeriert, sondern es betrifft den Kern des gesellschaftlichen Lebens. Es ist nicht ein Problem polizeilicher oder geheimdienstlicher Regulierung und es geht nicht nur um die Tätigkeiten einer abgrenzbaren Gruppe von Nazis. Rassismus, Homophobie, Antisemitismus, Antiamerikanismus und Nationalismus sind mehrheitsfähig, in Teilen der Republik gar hegemonial. Dort ist die Sphäre der Zivilgesellschaft, deren Versprechen Demokratisierung, Pluralismus und Integration war, rechtsradikal durchsetzt. Menschen, die pluralistische und demokratische Vorstellungen vertreten und gegen die rechte Alltagskultur opponieren, finden sich dort häufig in einer Minderheitsposition. Nicht selten sind sie Angriffen ausgesetzt – nicht nur von Seiten der Rechtsradikalen, sondern auch aus den Reihen der Normalbürger, für die die Benennung des Problems der Skandal ist und nicht die Ausweitung von No-Go-Areas für Menschen, die nicht ins Muster passen.
Dieses Heft versammelt Beiträge, die die Entwicklung eines sozial eingebetteten Rechtsradikalismus nachvollziehen und deuten. Im ersten Beitrag diskutiert Simon Teune Sinn und Unsinn des Oxymorons ‚rechtsradikale Zivilgesellschaft‘. Er geht davon aus, dass die Formulierung nur insofern Sinn macht, als sie den Blick auf die Entwicklung des Rechtsradikalismus schärft und Grenzen des Konzeptes Zivilgesellschaft aufzeigt. Dierk Borstel schließt mit einem Beitrag an, der die Entwicklung von rechtsradikalem Engagement nachzeichnet und dieses als Erfolgsrezept für politische Terraingewinne identifiziert. Auch wenn Anspruch und Wirklichkeit in der radikalen Rechten weit auseinander gehen, können sie doch in einigen Regionen dramatische Erfolge vorweisen. Das Zusammenspiel von NPD und freien Kameradschaften untersucht Gudrun Heinrich. Sie zeigt auf, inwieweit die NPD als ‚Bewegungspartei’ begriffen werden kann, die sich als Teil einer sozialen Bewegung versteht und den freien Kameradschaften Dank der Wahlerfolge in Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern materielle und diskursive Unterstützung für ihre kommunalen Initiativen bieten kann. Die drei darauf folgenden Beiträge untersuchen das Problem eines rechtsradikal durchsetzten Alltags im ländlichen, kleinstädtischen und im urbanen Raum. So zeigen Benno Hafeneger und Rainer Becker für das ländliche Hessen, dass Rechtsradikale in den eigenen Gemeinden nur selten Widerspruch zu erwarten haben, wenn sie als Nachbarn, Angehörige oder Vereinsmitglieder in ein enges soziales Netz eingebunden sind. Auch Benjamin Fischer und Tatiana Volkmann verweisen auf das Erfolgspotenzial von Rechtsradikalen, die sich als Teil der örtlichen Gemeinschaft zu präsentieren verstehen. In Ueckermünde besetzt der dortige NPD-Landtagsabgeordnete Themen, die die Stadtbewohner bewegen und kann auf die positiv wahrgenommenen Initiativen zweier Kameradschaften aufbauen. Rechtsradikal dominierte Räume gibt es aber auch in multikulturellen Großstädten, wie Carl Chung zeigt. Für Berlin weist er Ballungsräume nach, in denen rechte Parteien Erfolg haben und Formen der Diskriminierung bis hin zur Gewalt Teil der Alltagskultur sind. Auch wenn die demokratische Zivilgesellschaft in anderen Stadtteilen stark aufgestellt ist, hat sie in zwei östlichen Stadteilen mit der drohenden Dominanz der Rechtsradikalen zu kämpfen. Für den Fall, dass die Strategie kultureller Subversion von Seiten der Rechtsradikalen schon Erfolg hatte, stellt Claudia Luzar mögliche Interventionsstrategien vor. Sie erklärt, dass schon der Selbstverständigungsprozess, auf welcher Grundlage und mit welchen Zielen sich kommunale Akteure Rechtsradikalismus entgegenstellen wollen, demokratische Substanz schafft. Andreas Umlands Beitrag weitet die Perspektive auf die Situation in Russland aus. Mit Verweis auf das völkische Vereinswesen in der Weimarer Republik lenkt er den Blick auf die Aktivitäten russischer Rechtsradikaler, die sich jenseits der Parteien abspielen, die bei den letzten Wahlen kaum punkten konnten.
Das Schwerpunktthema dieses Heftes wird auch in den Rubriken aufgegriffen. Unter den aktuellen Analysen findet sich Bernd Wagners Essay über die Entwicklung des Rechtsradikalismus in Deutschland, über seine Strategien und Erfolge in der Erringung kultureller Hegemonie. Der Pulsschlag enthält einen Werkstattbericht von Fabian Virchow aus einem Forschungsprojekt, das die kommunale Arbeit der rechtsradikalen British National Party und der NPD vergleicht. Roland Roth stellt in dem darauf folgenden Beitrag Überlegungen für eine Bundesstiftung zur Demokratieförderung und Rechtsextremismusprävention vor, die die provisorischen Bundesprogramme ersetzen könnte. Im Literaturteil schließlich resümieren sowohl Ludger Klein als auch Jochen Roose aktuelle Bücher, die sich dem Thema widmen. Dass sich die Beiträge in diesem Heft nicht einheitlich des Begriffs ‚rechtsradikal‘ bzw. ‚rechtsextrem‘ bedienen, liegt an den jeweiligen Zugängen von Autorinnen und Autoren zum Thema: Für die Bezeichnung ‚rechtsradikal‘ spricht der Bezug auf die inhaltliche Ebene und die Neutralität gegenüber Vorstellungen von politischem Zentrum und Rand. Für die Bezeichnung ‚rechtsextrem‘ spricht die darin zum Ausdruck gebrachte Unvereinbarkeit mit den Grundsätzen einer pluralen Demokratie. Wir als Herausgeber wollten den Autorinnen und Autoren keinen einheitlichen Sprachgebrauch vorschreiben.
Der ‚Sonderschwerpunkt Demokratietheorie’ in diesem Heft beschäftigt sich mit der 2006 verstorbenen Demokratietheoretikern Iris Marion Young. Auf einer Tagung im Oktober 2007, gemeinsam veranstaltet von der Heinrich Böll-Stiftung und der Sektion für Politische Theorie in der DVPW, wurden die Impulse, die von Iris Youngs Werk ausgegangen sind und immer noch ausgehen, einer Prüfung unterzogen. Neben einer Einleitung von Peter Niessen dokumentiert dieses Heft vier Beiträge aus diesem Kontext.
Dierk Borstel (Greifswald/Berlin), Simon Teune (Berlin), Ludger Klein (Frankfurt/M./St. Augustin