Wenn man sich die Entwicklung der Institutionenordnung zunächst der Europäischen Gemeinschaft und heute der Europäischen Union (EU) ansieht, muss man sich die Augen reiben. In den fünf Jahrzehnten ihres Bestehens hat sich die EU fundamental verändert. Die schrittweise Ausdehnung der inhaltlichen Kompetenzen ausgehend von der alleinigen Zuständigkeit für Kohle und Stahl bei ihrer Entstehung 1951 bis hin zu der umfassenden Union mit Zuständigkeiten in den Bereichen Wirtschaft, Handel, Umwelt, Asyl und der gemeinsamen Währung – um nur einige zu nennen – ist nur die eine Seite der Veränderung. Parallel zu dieser inhaltlichen Ausweitung hat sich das Institutionengefüge der Union fundamental verändert. Im Zentrum dieses Wandels stand dabei immer wieder das Europaparlament. [1]
1. Geschichte des Europaparlaments
In der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, nach deren Beispiel in der Folge auch die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft gestaltet wurde, war nur eine parlamentarische Versammlung vorgesehen. Die nationalen Parlamente entsandten Vertreter in diese Versammlung, die eine rein beratende Rolle hatten ohne jede formale Entscheidungskompetenz.
Die erste und wohl wichtigste Wende für das Europaparlament erfolgte im Jahr 1979, vor nun 30 Jahren: Das Europaparlament wurde zum ersten Mal direkt gewählt. Die Bürger in allen Mitgliedsländern der damaligen Europäischen Gemeinschaft (EG), die später zur Europäischen Union wurde, waren aufgerufen, die Vertreter ihres Landes in das Parlament zu wählen. Die Wende erscheint einerseits epochal und andererseits marginal. Epochal war die Einführung eines direktdemokratischen Elements ins Institutionensystem der EU. Marginal war die Veränderung gleichzeitig, weil dieses direkt gewählte Parlament praktisch keine formalen Rechte hatte. Es war weiterhin eine beratende Institution ohne Einflussmöglichkeit. Den Menschen in der EG bzw. EU musste eine solche Konstruktion anachronistisch vorkommen. In Ländern, für die seit vielen Jahrzehnten voll ausgebildete Demokratien eine Selbstverständlichkeit sind, muss ein Parlament ohne Rechte geradezu lächerlich wirken. Entsprechend hatte das Europaparlament einen verheerenden Ruf als völlig unwichtige und machtlose Institution. Dieser Ruf wirkt bis heute auf fatale Weise nach, obwohl sich die Situation grundlegend geändert hat. Denn mit der demokratischen Legitimation des Parlaments kam das Institutionensystem der EU unter einen (wahrgenommenen) Erwartungsdruck. Ähnlich wie bei der Entstehung nationaler Demokratien kann man auch auf europäischer Ebene einen Prozess beobachten, in dem das Parlament sich zunehmend Kompetenzen aneignete und Kompetenzen zugestanden bekam (Bocklet 2008).
Jeder institutionelle Reformschritt der EU bis heute hat das Europaparlament gestärkt. Aus Sicht der intergouvernementalistischen Schule der internationalen Beziehungen (auch realistische Schule genannt, vgl. einführend Bieling 2005, Steinhilber 2005) muss diese Entwicklung überraschen. Wie lässt sich erklären, dass nationale Regierungen freiwillig Macht und Entscheidungsspielraum an eine andere Institution, das Europaparlament, abtreten? Die Erklärung kann nicht eindimensional sein und das Gewicht der erklärenden Faktoren lässt sich bei diesem langwierigen historischen Prozess kaum klären. Ein wesentlicher Einfluss war mit Sicherheit das viel diskutierte Demokratiedefizit der EG bzw. EU, das die europäische Staatengemeinschaft immer wieder unter Druck brachte (vgl. u.a. Bach 2000, Chryssochoou 1998, Fuchs 2003, Follesdal/Hix 2006 und Heft 4/2001 des FJ NSB). Um normative Legitimität und Zustimmung der Bürger für die europäische Integration zu gewinnen, wurde immer wieder das gewählte Parlament gestärkt. Sicher spielt auch die normative Bindung der Entscheidungsträger, also der Regierungschefs der europäischen Mitgliedsländer, eine Rolle. Es kommt letztlich wohl auch wesentlich auf Einzelpersonen an, die sich normativen Prinzipien verbunden fühlen ohne Rücksicht auf persönliche oder einzelstaatliche Machtinteressen. Und schließlich hat auch das Europaparlament selbst, in Zusammenarbeit mit dem Europäischen Gerichtshof, auf eine Ausweitung der parlamentarischen Kompetenzen hingearbeitet. Zwar musst das Parlament zunächst nur angehört werden, doch durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs wurde aus diesem Anhörungsrecht ein Verzögerungsrecht mit zumindest etwas Drohpotenzial. [2]Als mit der Einheitlichen Europäischen Akte, die 1987 in Kraft trat, dem Europaparlament ein beschränktes Mitspracherecht bei dem Erlassen von Richtlinien eingeräumt wurde, war dies also zum Teil nur eine sinnvolle vertragliche Umsetzung einer ohnehin schon gängigen Praxis, die sich aus dem Verzögerungsrecht des Parlaments ergab.
Vor allem mit den Verträgen von Maastricht (1992), Amsterdam (1999) und Nizza (2001) wurden die Rechte des Parlaments nochmals ausgedehnt. Heute kann das Europaparlament zumindest bei den Politikfeldern, die dem Mitentscheidungsverfahren unterliegen, substanziell Einfluss ausüben. Es handelt sich um ein mehrstufiges Verfahren, das bei unterschiedlichen Ansichten von Parlament und Rat mehrere Lesungen vorsieht, mit der Möglichkeit für das Parlament, den Vorschlag zu verändern oder endgültig scheitern zulassen. Tatsächlich macht das Parlament von seinen Einflussmöglichkeiten erheblichen Gebrauch. An ein Europaparlament als politisch einflussreiche Institution mussten sich allerdings viele erst gewöhnen. Selbst der Rat, der die Kompetenzausweitung des Parlaments beschlossen hatte, hatte gewisse Anpassungsschwierigkeiten an die neuen Realitäten. In der Legislaturperiode 1994 bis 1999, in der erstmals das Mitentscheidungsverfahren angewendet wurde, konnte kein Gesetzesvorhaben das Parlament nach der ersten Lesung passieren; 40 Prozent der damals noch wenigen Vorhaben scheiterten auch in der zweiten Lesung und wurden erst im Vermittlungsausschuss beschlossen. Mittlerweile haben die Regierungsvertreter gelernt, dass es keinen Sinn macht, die Interessen des Europaparlaments im Mitentscheidungsverfahren zu ignorieren. Dank intensiver Vorabstimmungen und höherer Kompromissbereitschaft konnten 2007 über 80 Prozent der Gesetzesvorhaben das Parlament in der ersten Lesung passieren, was die Gesetzgebung natürlich erheblich beschleunigt [3]
Die Macht des Europaparlaments darf gleichwohl nicht überschätzt werden. Dem Europaparlament fehlen klassische parlamentarische Rechte. So kann es nicht von sich aus ein Gesetz vorschlagen, sondern dieses Recht hat allein die Kommission inne. Auch die Wahl einer Regierung, der in der EU am ehesten die Kommission mit ihrem Kommissionspräsidenten gleich kommt, steht dem Europaparlament nicht in vollem Maße zu. Der Kommissionspräsident und im zweiten Schritt das Kollegium der Kommissare braucht seit dem Vertrag von Maastricht 1993 zwar die Zustimmung des Europaparlaments bei der Einsetzung und das Parlament hat die Möglichkeit eines Misstrauensvotums gegen die Kommission. Dennoch ist dies kein volles Recht zu Wahl der Exekutive, denn das Parlament kann nicht beliebige Personen wählen, sondern allein über den Vorschlag der Regierungschefs befinden. Schließlich gibt es in der Rechtssetzungspraxis neben dem Mitentscheidungsverfahren, das erhebliche Rechte für das Parlament vorsieht, nach wie vor das Verfahren der Anhörung mit einer marginalen Rolle des Parlaments. Von allen Rechtssetzungsverfahren, an denen das Europaparlament überhaupt beteiligt war, liefen 2008 ein gutes Drittel nach dem Verfahren der Anhörung ab. 2006 machten die Verfahren der Anhörung über die Hälfte aller Verfahren aus.4 [4] Da die Europaparlamentarier nur sehr wenig in den Medien wahrgenommen werden, gibt es praktisch auch keinen informellen Druck durch öffentliche Kritik. Die Machtzunahme des Parlaments ist also eine relative. In den Kernbereichen der EUPolitik, den Regulierungen des gemeinsamen Marktes und daran angeschlossenen Politikbereichen, wie Umweltschutz, Verbraucherschutz oder Regionalförderung, spielt das Parlament aber durchaus eine wichtige Rolle, denn in diesen Bereichen muss durchweg nach dem Mitentscheidungsverfahren beschlossen werden.
2. Wahrnehmung des Europaparlaments
Die Kombination von demokratischer Legitimation, begrenzten Einflussmöglichkeiten und geringer massenmedialer Beachtung scheint dem Image des Europaparlaments auf den ersten Blick recht gut zu bekommen. Das Parlament ist (mit Ausnahme des Europäischen Gerichtshofs) die Institution, der die Europäer am meisten vertrauen. 51 Prozent der Bürger in den 27 Mitgliedsländern der EU gaben im Frühjahr 2008 an, dem Europaparlament eher zu vertrauen. [5] Dem stehen 27 Prozent der Bürger gegenüber, die dem Parlament eher nicht vertrauen. Die Kommission genießt bei 47 Prozent der europäischen Bürger Vertrauen, liegt also mit nicht sehr großem Abstand hinter dem Parlament; 27 Prozent vertrauen der Kommission eher nicht. Der Rat als Zusammenkunft der nationalen Minister liegt in diesem Vergleich hinten mit 43 Prozent, die eher Vertrauen äußern und 26 Prozent, die eher Misstrauen hegen.
Die nationalen Regierungen und Parlamente kommen bei der Frage des Vertrauens deutlich schlechter weg. Nur 34 Prozent der Menschen in der EU vertrauen ihrem nationalen Parlament, während 58 Prozent dem nationalen Parlament eher nicht vertrauen. Die Länderunterschiede sind bei dieser Frage natürlich erheblich, denn es handelt sich ja um unterschiedliche Parlamente, die mit dieser Frage eingeschätzt werden. Während die Dänen zu 76 Prozent ihrem nationalen Parlament eher vertrauen, sind es in Lettland und Litauen gerade einmal 12 Prozent. Ähnlich sieht es aus beim Vertrauen in die nationale Regierung. In der EU insgesamt haben 32 Prozent eher Vertrauen in ihre jeweilige Regierung, während 62 Prozent eher misstrauisch sind. Auch in diesem Vergleich sind die Unterschiede groß mit 69 Prozent der Zyprioten, die ihrer nationalen Regierung eher vertrauen, aber nur 15 Prozent der Italiener und Letten, die so über ihre Regierung urteilen. [6] Der Vergleich beim Vertrauen in das nationale Parlament und das Europaparlament bestätigt aber auch bei einer einzelnen Betrachtung der EU-Mitgliedsländer diese Tendenz. Im Vergleich aller 27 Mitgliedsländer der EU ist nur in vier Ländern das Vertrauen in das nationale Parlament größer als in das Europaparlament. Dies sind die skandinavischen Länder (Finnland, Schweden, Dänemark) und Zypern, in denen das Vertrauen in das nationale Parlament jeweils sehr hoch ist (über 50 Prozent). Bei allen übrigen Ländern ist das Vertrauen in das Europaparlament jeweils höher als in das nationale Parlament.
Nimmt man also die wichtige Vertrauensdimension zum Maßstab, so sieht es sehr günstig aus für das Europaparlament. Doch vermutlich trügt diese Wahrnehmung erheblich. In einer Umfrage von 2007 lag im Vertrauen der Deutschen Günther Jauch ganz vorn, der erste aktive Politiker in dieser Rangfolge war auf Platz fünf der Bundespräsident Horst Köhler (Fokus 8.7.2007). Es scheint also für Vertrauenswerte durchaus hilfreich zu sein, in der Wahrnehmung der Bürger über eher wenig Macht zu verfügen. Das mag bei einem Präsidenten ohne politisch inhaltliche Gestaltungsaufgabe angemessen und für eine Demokratie auch durchaus hilfreich sein, doch parlamentarische Politik lebt von der Kontroverse, von der Auseinandersetzung widerstreitender Interessen. Das mag der Beliebtheit nicht in jedem Fall zuträglich sein, ist aber das Lebenselixier der Demokratie.
3. Wahlbeteiligung als Gradmesser
Wenn aber das Vertrauen in eine Institution nur bedingt als Gradmesser ihrer demokratischen Qualität und Akzeptanz taugt, was kann dann ein geeignetes Maß sein? Für Parlamente bietet sich hier die Wahlbeteiligung an. Wählt man die Wahlbeteiligung als Kriterium, so ist sieht das Bild deutlich anders aus. Gleich in doppelter Hinsicht bereitet die Wahlbeteiligung Sorgen. Zum einen ist die Beteiligung an Wahlen zum Europaparlament ausgesprochen niedrig. 2004 nahmen etwas weniger als die Hälfte der wahlberechtigten Europäer an der Europawahl teil (45,7 %). Wie bei den Vertrauenswerten auch sind die Länderunterschiede erheblich. Interessant ist aber, dass sich im Gegensatz zum Vertrauen in das nationale bzw. Europaparlament die Verhältnisse bei der Wahlbeteiligung umkehren. In fast allen EU-Mitgliedsländern war die Wahlbeteiligung bei der Europawahl 2004 (bzw. der Nachwahl 2007 in den neu beigetretenen Ländern Rumänien und Bulgarien) niedriger als die Beteiligung an der zeitlich am nächsten liegenden nationalen Wahl. [7]
Der zweite Grund für Sorgen ist die zeitliche Entwicklung. Die Beteiligung an Wahlen zum Europaparlament zeigt einen klaren Trend nach unten von 63,0 Prozent 1979 bis 45,7 Prozent 2004. Diese Entwicklung ist vor allem deshalb bemerkenswert, weil die Stärkung der parlamentarischen Rechte seine Bedeutung im Institutionensystem der EU gestärkt haben und eine Zunahme des Interesses der Bürger eine naheliegende Folge hätte sein müssen. Die Realität weist aber genau in die andere Richtung und eine Trendwende bei der Wahl in diesem Jahr ist kaum zu erwarten.
4. Das Paradox des Europaparlaments
Das Europaparlament befindet sich in einer paradoxen Situation. Die Bürger haben Vertrauen zum Parlament, aber wenig Interesse an dieser Institution. Die Wahlbeteiligung ist gering und sinkt. Zudem wurden die letzten Vertragsrevisionen (Verfassungsvertrag und Reformvertrag von Lissabon) in Volksabstimmungen abgelehnt. Der Verfassungsvertrag ist vom Tisch, die Zukunft des Reformvertrags ist nach wie vor ungewiss. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass wesentliche Demokratisierungsschritte der EU, wie die Stärkung des Parlaments oder die Einführung eines europäischen Volksbegehrens, in Referenden abgelehnt wurden.
Das Europaparlament könnte mit der Situation zufrieden sein. Die EU löst zwar keine Euphorie bei den Bürgern aus, eher distanzierte Skepsis, aber auf das Europaparlament schlägt sich diese Haltung noch am wenigsten nieder. Gewissermaßen unterhalb der öffentlichen Aufmerksamkeitsschwelle kann das Parlament Politik machen und intern im Institutionensystem der EU mit dem Pfund seiner demokratischen Legitimation wuchern. Doch diese Legitimität ist es gerade, die unter der schlechten Wahlbeteiligung leidet. Die Position des Europaparlaments ist wesentlich abhängig von der Unterstützung durch die Bürger – mindestens in Form des Wahlaktes. Bleibt dies aus bzw. fällt unter ein als noch erträglich angesehenes Niveau, dürfte zumindest langfristig auch die Position des Europaparlaments innerhalb der EU untergraben werden. Daher tut das Europaparlament gut daran, sich zu fragen, wie es sich besser in der Bevölkerung verankern kann. Eine höhere Wahlbeteiligung wäre sicher ein wichtiger Schritt in diese Richtung.
Das vorliegende Heft diskutiert die Gründe und Folgen der geringen Europawahlbeteiligung. Einher mit dieser Diskussion geht die Frage, was geändert werden kann und muss, um die Wahlbeteiligung und damit die demokratische Legitimität des Europaparlaments und nicht zuletzt der EU insgesamt zu stärken. Den Auftakt macht ein kritischer Beitrag von dem langjährigen Europaforscher Max Haller. Sein Artikel fächert zunächst das Thema auf, indem die Bedeutung einer angemessenen Wahlbeteiligung aus demokratietheoretischer Sicht diskutiert und die Entwicklung der Europawahlbeteiligung im Ländervergleich dargestellt wird. Haller problematisiert die geringe Wahlbeteiligung mit einem vergleichenden Blick auf die Schweiz und die USA. In beiden etablierten Demokratien ist die Wahlbeteiligung ebenfalls gering, was zu dem Schluss verleiten könnte, dass kein eigentliches Problem vorliegt. Haller entlarvt diesen Trugschluss durch den Verweis auf kompensatorische Mechanismen. In seinen analytischen Thesen weist er gängige, für das Europaparlament eher entlastende Interpretationen der Entwicklung zurück und entwickelt alternative Vorschläge. Dieter Ohr widmet sich dem Thema als Wahlforscher aus einer generellen Perspektive. Langfristige Trends der Wählermobilisierung bei Wahlen insgesamt werden vorgestellt und auf die Europawahl bezogen. Ohr stellt die Europawahl so in den Kontext der Entwicklung von Wahlbeteiligungen bei Wahlen insgesamt. Diese Analyse verweist auf Einflüsse aus gesellschaftlichen Trends, macht aber auch Besonderheiten der Europawahl deutlich.
Reflektionen zur ‚wahlkämpfenden Praxis‘ stellen drei Beiträge an. Kathrin Kummerow befragt die Europaabgeordnete Heike Trüpel (Bündnis 90/Die Grünen) nach ihrer Strategie zur Mobilisierung von Wählern und den Gründen für die vergleichsweise geringe Wahlbeteiligung. Carsten Meeners, Leiter des Berliner Verbindungsbüros der deutschen SPD-Abgeordneten im Europaparlament, identifiziert in einem Beitrag aus seiner persönlichen Sicht fundamentale Schwierigkeiten im Europawahlkampf der Parteien. In den Blick kommen dabei grundsätzliche Probleme bei der Vermittlung von europäischer Politik, aber auch fragwürdige Strategien von Parteien, die an der Profilierung europapolitischer Positionen scheinbar nur eingeschränktes Interesse haben. Aus Sicht der Umweltverbände schreiben Helmut Röscheisen und Bjela Vossen vom Deutschen Naturschutzring über die Bedeutung der Europawahl und die Möglichkeiten, für diese entscheidende Wahl zu mobilisieren. Diese drei Beiträge aus der politischen Praxis verweisen auf ähnliche Schwierigkeiten bei der Wählermobilisierung, kommen aber zu recht unterschiedlichen Schlussfolgerungen, was die Bandbreite der möglichen Lösungswege deutlich macht.
Sabine Pokorny schließlich widmet sich einem Nebeneffekt der vergleichsweise geringen Beteiligung an Europawahlen, den Wahlchancen von rechtsradikalen Parteien und ihrer Arbeit im Europaparlament. Sie verfolgt die Frage, ob es sich bei der Wahl rechtsextremer Parteien tatsächlich - wie vielfach behauptet - um nationalen Protest handelt, der mit einer Ablehnung des europäischen Einigungsprozesses wenig zu tun habe.
In den Rubriken des Forschungsjournals wird das Schwerpunktthema mit aufgenommen. Im Pulsschlag berichten Silke Adam und Michaela Maier von einem angelaufenen international vergleichenden Forschungsprojekt zum Europawahlkampf. Dazu beschreibt Michael Spörke die Interessenvertretung behinderter Menschen auf europäischer Ebene. Matthias Freise stellt im Literaturteil eine Reihe von aktuellen Neuerscheinungen vor, die das Europaparlament, die Wahlen und die Arbeit der Parlamentarier beleuchten. Jochen Roose schließlich stellt einen Sammelband zum Thema Euroskeptizismus vor.
Wahlen sind ein zentraler Aspekt von Demokratien, nicht nur weil durch sie politisches Führungs- und das heißt auch immer Entscheidungspersonal bestimmt wird, sondern auch weil sie ein Gradmesser sein können für das Gesellschaftsprojekt Demokratie insgesamt. In dieser Perspektive kommt der Wahlbeteiligung bei den Europawahlen 2009 und den Gründen für Wahlenthaltung oder Protestwahl eine große Bedeutung zu.
Jochen Roose (Berlin)
Anmerkungen
- Vgl. zum Institutionensystem und der Geschichte der EU zum Beispiel Wessels (2008), Weidenfeld (2008) oder Weidenfeld und Wessels (2002). Für aktuelle Literatur zum Europaparlament vgl. auch die Sammelbesprechung von Freise in diesem Heft.
- Entscheidend für diese Entwicklung war das so genannte ‚Isoglukose-Urteil‘ von 1980 (Kirchner/Williams 1983). Hintergrund der Auseinandersetzung zwischen dem Rat und dem Parlament war eine Richtlinie, die der Rat beschlossen hatte, ohne die Stellungnahme des Parlaments abzuwarten. Als ein von der Richtlinie betroffenes Unternehmen auf Nichtigkeit der Richtlinie klagte, weil diese nicht auf legalem Wege zustande gekommen sei, schloss sich das Parlament der Klage an. Der Europäische Gerichtshof machte in seinem Urteil zwei folgenreiche Beschlüsse. Zum einen stand er dem Europaparlament ein Klagerecht zu, das vom Rat bestritten worden war. Zum anderen, und wichtiger noch, stellte der Gerichtshof fest, dass der Rat ohne vorliegende Stellungnahme des Europaparlaments keine Entscheidung treffen dürfte, was dem Parlament de facto die Möglichkeit einer Verzögerung der Rechtssetzungsverfahren einräumte.
- Quelle: Gesamtbericht über die Tätigkeit der Europäischen Union, diverse Jahre (europa.eu/ generalreport/de/)
- Der Anteil der Anhörungsverfahren an allen Verfahren mit Parlamentsbeteiligung schwankt seit Einführung des Mitentscheidungsverfahrens 1993 zwischen 38 und 55 Prozent. Quelle: Gesamtbericht über die Tätigkeit der EU, siehe Anmerkung 3[zurück]
- Quelle dieser und der folgenden Angaben: Eurobarometer 69 (ec.europa.eu/ public_opinion/).
- In Deutschland geben 50 Prozent der Bürger an, dem Europaparlament eher zu vertrauen, 32 Prozent sind eher misstrauisch. Dem Deutschen Bundestag vertrauen 41 Prozent der Deutschen, während 53 Prozent misstrauisch sind, und der Bundesregierung vertrauen 36 Prozent, 59 Prozent misstrauen ihr.
- Die einzige Ausnahme ist Lettland, wo 48,4 Prozent an der Europawahl 2004 teilnahmen, aber nur 45,9 Prozent an der nationalen Wahl im selben Jahr.
Literatur
- Bach, Maurizio 2000: Die europäische Integration und die unerfüllten Versprechen der Demokratie. In: Klingemann, Hans-Dieter/Neidhardt, Friedhelm (Hg.): Zur Zukunft der Demokratie. Herausforderungen im Zeitalter der Globalisierung. WZB-Jahrbuch 2000. Berlin: sigma, 185-213.
- Bieling, Hans-Jürgen 2005: Intergouvernementalismus. In: Bieling, Hans-Jürgen/Lerch, Marika (Hg.): Theorien der europäischen Integration. Wiesbaden: VS, 91-116.
- Bocklet, Reinhold 2008: Das Europäische Parlament: Kompetenzzuwachs durch Vertragsänderung und im politischen Prozess von der Montanunion zum Maastrichter Unions-Vertrag. In: Patzelt, Werner J. u.a. (Hg.): Res publica semper reformanda. Wissenschaft und politische Bildung im Dienste des Gemeinwohls. Wiesbaden: VS, 612-625.
- Chryssochoou, Dimitris N. 1998: Democracy in the European Union. London, New York: Tauris Academic Studies.
- Follesdal, Andreas/Hix, Simon 2006: Why there is a Democratic Deficit in the EU. A Response to Majone and Moravcsik. In: Journal of Common Market Studies, Jg. 44, Heft 2, 533-562.
- Fuchs, Dieter 2003: Das Demokratiedefizit der Europäischen Union und die politische Integration Europas: Eine Analyse der Einstellungen der Bürger in Westeuropa. In: Brettschneider, Frank u.a. (Hg.): Europäische Integration in der öffentlichen Meinung. Opladen: Leske+Budrich, 29-56.
- Kirchner, E./Williams, K. 1983: The Legal, Political and Institutional Implications of the Isoglucose Judgements 1980. In: Journal of Common Market Studies, Jg. 22, Heft 2, 173- 190.
- Steinhilber, Jochen 2005: Liberaler Intergouvernementalismus. In: Bieling, Hans-Jürgen/ Lerch, Marika (Hg.): Theorien der europäischen Integration. Wiesbaden: VS, 169-196.
- Weidenfeld, Werner 2008: Die Europäische Union. Politisches System und Politikbereiche. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung.
- Weidenfeld, Werner/Wessels, Wolfgang 2002: Europa von A bis Z. Taschenbuch der europäischen Integration. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung.
- Wessels, Wolfgang 2008: Das politische System der Europäischen Union. Wiesbaden: VS Verlag