Neue soziale und kulturelle Ungleichheiten konfrontieren moderne Gesellschaften zunehmend mit der Herausforderung, soziale und politische Integration zu gewährleisten: Prekarisierung, eine zunehmenden Kluft zwischen arm und reich und wachsende Exklusion (vgl. Bude 2008) kennzeichnen zeitgenössische Gesellschaftsanalysen. Dem gegenüber stehen hoffnungsfrohe Verheißungen, die – mittlerweile nicht zuletzt auch von der Politik – mit bürgerschaftlichem Engagement und der Bildung von Sozialkapital assoziiert werden: Hier lägen die Ressourcen der Zukunft für gesellschaftliche Integration, für ein neues, über die ‚Bürgergesellschaft‘ definiertes Staatsverständnis und für eine Reform sozialer Sicherungssysteme.
Allerdings verweisen Erhebungen – nicht zuletzt der Freiwilligensurvey 1999-2004 (Gensicke/ Picot 2006) – auch darauf, dass bürgerschaftliches Engagement vorrangig von besser situierten Bürgerinnen und Bürgern mit hohem Bildungsstand und gesichertem Einkommen getragen wird, während dieser Weg zu gesellschaftlicher Teilhabe bildungsfernen und partizipationsarmen Gruppen in unserer Gesellschaft längst nicht so zugänglich ist.
Unter diesen Bedingungen mag der Diskurs des Sozialkapitals zunehmend verdächtig erscheinen. Offenbart er nicht genau das Problem, das er zu lösen vorgibt? Soziale Beziehungen haben einen Wert für manche, aber keinesfalls zwingend für die Gesellschaft als Ganze. Enthüllt er nicht zunehmend seinen eigentlichen ‚kolonialistischen‘ Kern, nämlich auch noch soziale Beziehungen vor allem unter Gesichtspunkten des Nutzens zu betrachten? Demokratietheoretisch dominiert jedoch seit den Arbeiten des US-Amerikaners Robert D. Putnam (1993, 2000) dessen positiv konnotierte Lesart. Laut Putnam erfolgt die Bildung von Sozialkapital in zivilgesellschaftlichen Assoziationen. Bürgerschaftliches bzw. zivilgesellschaftliches Engagement in Assoziationen, so eine zentrale These Putnams, schaffe Sozialkapital, das wiederum die soziale und politische Integration fördere. Durch Sozialkapital werden Gewohnheiten sozialer Kooperation praktiziert und eingeübt, durch Sozialkapital wird das Vermögen gesellschaftlicher Selbstorganisation gestärkt. Sozialkapital fördert, so seine Annahme, demokratische Kultur und sowohl institutionelle als auch ökonomische Performanz – nicht nur in westlichen Industrieländern, sondern ebenso in Schwellenund Entwicklungsländern. Integration, so Putnam, werde vor allem durch die Vertrauensbildung in freiwilligen Assoziationen (Vereinen, etwas globaler gedacht in Mitgliederverbänden, NGO) befördert. Das hier gewonnene Vertrauen werde dann auf andere Bereiche übertragen und führe somit zu Integration (vgl. Geißel et al. 2004).
Pierre Bourdieu (1983) hatte demgegenüber ein ungleich kritischeres Verständnis von Sozialkapital: Er stellt Sozialkapital neben ökonomisches Kapital (Geld) und kulturelles Kapital (Bildung). Bourdieu geht davon aus, dass letztlich alle drei Formen des Kapitals in eine jeweils andere überführbar sind: Wer Geld hat, hat besseren Zugang zu Bildung und Netzwerken, Sozialkapital verhilft als ‚Vitamin B‘ zu mehr Geld, Engagement und Netzwerke bilden, gebildete Menschen haben es einfacher an Geld zu kommen und haben erweiterte Zugänge zu Netzwerken. Bourdieu folgend dient Sozialkapital vor allem der Selbstreproduktion gesellschaftlicher Milieus bzw. Gruppen und geht damit eher mit Exklusion als mit Inklusion einher. Infolgedessen dient Sozialkapital der Reproduktion sozialer Ungleichheit. Im Spannungsfeld dieser Debatte unterschiedet Putnam schließlich zwischen ‚bridging‘ und ‚bonding‘ Sozialkapital, zwischen inklusivem, brückenschlagendem und exklusivem, zusammenschmiedendem Sozialkapital. Forschungsjournal NSB, Jg. 22, 3/2009
Vor dem Hintergrund der zeitdiagnostischen Betrachtungen der Gegenwartsgesellschaft werden Zweifel laut an den sozialintegrativen Verheißungen des Sozialkapitals. Diese bilden den Anlass, erneut eine Bestandsaufnahme mit Blick auf das Verhältnis von Sozialkapital und Zivilgesellschaft vorzunehmen.
Der Themenschwerpunkt wird von unserer Gastherausgeberin Sandra Seubert mit ausführlichen einführenden Erörterungen zur aktuellen Diskussion, zu Potentialen und Grenzen des Konzepts Sozialkapital eröffnet. Bruno Frère kritisiert die Gefahr einer einseitigen, neoliberalen Rezeption des Konzepts in aktuellen Handreichungen zur Politikberatung – etwa der OECD und ihren Empfehlungen angesichts einer globalisierten Ökonomie. Insofern hier die Förderung von Sozialkapital zur Wiedereingliederung von ‚Ausgegliederten‘ in den Arbeitsmarkt empfohlen wird, wird der ideologische Rechtfertigungsdiskurses der flexibilisierten Ökonomie letztlich reproduziert. Verschleiert werde mit der Verknüpfung von Sozialkapital und ‚employability‘, so Fère, dass die Existenz der mobilen Vernetzer erst durch die für die globale Wirtschaft strukturell notwendigen immobilen ‚Ausgegliederten’ ermöglicht wird. Frère plädiert vor diesem Hintergrund für eine anderes Sozialkapitalkonzept, das die politische Relevanz von Sozialkapital in den Vordergrund rückt und mit Konzepten einer solidarischen Ökonomie einhergeht. Praktische Ansätze hierzu macht Frère in Frankreich und Quebec aus, wo auf kommunale Bedürfnisse ausgerichtete Konzepte Aussichten auf stabile Beschäftigung und eine Rückgewinnung von Staatsbürgerschaft und Politik ermöglichen.
Während Robert Putnam (1993) davon ausgeht, dass vertikale, hierarchische Netzwerke keiner Reziprozitäts-Norm unterliegen – und somit auch kein Vertrauen schaffen, dass das Engagement innerhalb des Netzwerks zumindest irgendwann vergolten wird –, stellt Martin Hartmann die These auf, dass auch in asymmetrischen Netzwerken die Bildung von Sozialkapital möglich ist: Der neoliberale Kapitalismus nämlich gestalte sich in der Netzwerkgesellschaft als ‚Netzwerkkapitalismus‘. In diesem Rahmen vermögen die Erfolgreichen (‚Netzwerkopportunisten‘) von scheinbaren Vertrauensbeziehungen auf Kosten von weniger privilegierten Netzwerk- Mitgliedern, zu profitieren, ohne dass letzeren die Bedingungen zur Verfügung stünden, Vertrauensbrüchen im eigenen Interesse zu sanktionieren.
Inwieweit und mit welchem Nutzen sozial benachteiligte Menschen auf soziales Kapital zurückgreifen können, diskutiert Petra Böhnke. Sie verfolgt dabei zum einen die Frage, wie der Zugang zu Sozialkapital unter den Bedingungen von Armut und Arbeitslosigkeit in Abhängigkeit von Wohlfahrtsniveau, sozialer Sicherung und ideologischen sowie kulturellen Werthaltungen variiert. Zum anderen widmet sie sich der Frage, wie sich die Verfügbarkeit von sozialem Kapital durch ‚den Abstieg in Armut’ verändert. Die Befunde ihrer Studien stützen eher die Bourdieusche Position, dass Sozialkapital soziale Ungleichheit reproduziert und gerade dort nicht zur Verfügung steht, wo es besonders nötig zu sein scheint.
Ludgera Vogt beschreibt die exklusiven Folgen, die top-down konstruiertes Sozialkapital haben kann, anhand einer Bürgerstiftung in einer Ruhrgebiets-Stadt, die ihre Mitglieder gezielt durch Schneeballsystem in elitären Kreisen gewonnen hat. Hieraus resultierte eine obschon kompetente, so doch exklusiv-homogene Stifter/innen-Struktur, die weder den Querschnitt der Bevölkerung repräsentiert noch in der Lage ist, ihre Aufgaben zu erfüllen, da es ihr an Akzeptanz und Attraktivität in der Bevölkerung mangelt. Ein Gegenbeispiel aus der selben Stadt verdeutlicht, dass ein offenerer Gründungsprozess zu einer inklusiveren Bürgerstiftung führt.
Welche Merkmale eine freiwillige Vereinigung kennzeichnen, die Sozialkapital (re-)produziert, Editorial nsb3-2009.pmd 4 04.09.2009, 09:55 5 untersucht Sebastian Braun. Dazu nimmt er die Zusammenhänge zwischen Zielen und Strukturen freiwilliger Assoziationen einerseits als Wahlgemeinschaften in den Blick, andererseits die Entstehung von Gemeinschaftsbeziehungen, Vertrauen und Reziprozitätsnormen. Aus der strukturellen Verfasstheit von Vereinigungen und ihrer immanenten Handlungslogik als Wahlgemeinschaften – so seine Schlussfolgerung – resultieren Interaktionsformen, die für die Bildung von Sozialkapital von grundlegender Bedeutung sind. Insbesondere Zusammen- und Zugehörigkeitsgefühl entwickeln sich aufgrund entsprechender Strukturbesonderheiten leicht und nachhaltig.
Regionales bzw. lokales Sozialkapital wird in dem Beitrag von Michael Corsten nicht als objektiver Indikator (Anzahl Vereine, Zahl engagierter Vereinsmitglieder gemessen an der Gesamtpopulation), sondern über subjektive und symbolische Repräsentationen des sozialen Umfelds engagierter Akteure untersucht. In vier ost- und westdeutschen Städten wurde bei Engagierten mithilfe eines Strukturlegespiels festgehalten, wie sie ihre Region sozial-moralisch kartieren. Im Vergleich von Ost- und Westdeutschland stellte sich dabei heraus, dass ostdeutsche Engagierte an abstrakteren Kollektivbildern orientiert sind als Westdeutsche; ein Befund, der als kontra-intuitiver Effekt des Transformationsprozesses in Deutschland gedeutet werden könne.
Die aktuelle Analyse in diesem Heft fügt sich nahtlos in den Themenschwerpunkt: Frank W. Heuberger und Birger Hartnuß präsentieren Ergebnisse einer qualitativen Studie des Centrums für Corporate Citizenship Deutschland (CCCD) zur gesellschaftlichen Verantwortung von Topmanagern in Deutschland. Vor dem Hintergrund der Finanzkrise und einer damit einhergehenden Neujustierungen von Gesellschaftsbildern und Rollenverständnissen gehen sie der Frage nach, welche Rolle dem Unternehmertum, Staat und Politik sowie der Zivil- Editorial nsb3-2009.pmd 5 04.09.2009, 09:55 6 gesellschaft aus der Perspektive von Vorstandsvorsitzenden (CEOs) zukommt. Die Studie zeigt, dass Unternehmen nicht nur im Selbstverständnis des ‚homo oeconomicus‘ agieren, dass aber gleichwohl ein traditionelles Bild gesellschaftlicher Rollenverteilung vorherrscht: Die Wirtschaft stellt die Basis dar, die gesellschaftlichen Wohlstand schafft, dessen Verteilung der Staat regelt. Die konzeptionelle Reichweite von Corporate Citizenship als nachhaltiges Wirtschaften unter ökonomischen, ökologischen und sozialen Gesichtspunkten ist hingegen noch nicht hinreichend erkannt. Allerdings zeichne sich in den Bereichen ‚work-life-balance‘, Klima- und Umweltschutz, Bildung und Qualifizierung sowie Gesundheitsförderung ab, dass Unternehmen eine Führungsrolle jenseits wirtschaftlicher Kernkompetenzen zu übernehmen bereit sind. Der Begriff der Zivilgesellschaft ist den CEOs indes wenig vertraut. Die Studie kommt zu dem Schluss, dass Kooperationen auf Augenhöhe aber ein angemessenes Verständnis von Zivilgesellschaft und Drittem Sektor als gesellschaftliche Sphäre erfordern. Eine neue gesellschaftliche Verantwortungsbalance bedürfe der Bereitschaft und Fähigkeit aller drei Sektoren, die Perspektiven der jeweils anderen Sektoren einnehmen, ihre Eigenlogik verstehen und akzeptieren zu können.
Ein Sonderteil des vorliegenden Heftes widmet sich der engagementpolitisch interessanten Frage: „Wer finanziert die Bürgergesellschaft?“ Er dokumentiert ausgewählte Beiträge eines von der Stiftung ‚Bürger für Bürger‘ am 24/25. April 2009 in Schloss Diedersdorf bei Berlin durchgeführten Expertenkolloquiums.
In den Rubriken finden sich u.a. eine Auseinandersetzung mit der Tafel-Bewegung (Stephan Editorial Lorenz), eine Bestandsaufnahme zur kommunalen Engagementförderung (Roland Roth) und eine auch für den Themenschwerpunkt relevante Rezension zu den französischen Soziologen Bourdieu und Boltanski (Albrecht Lüter).
Sandra Seubert, Frankfurt a.M./Ludger Klein, Sankt Augustin und Frankfurt a.M./Ansgar Klein, Berlin
Literatur
- Bach, Maurizio 2000: Die europäische Integration und die unerfüllten Versprechen der Demokratie. In: Klingemann, Hans-Dieter/Neidhardt, Friedhelm (Hg.): Zur Zukunft der Demokratie. Herausforderungen im Zeitalter der Globalisierung. WZB-Jahrbuch 2000. Berlin: sigma, 185-213.
- Bourdieu, Pierre 1983:: Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital. In: Kreckel, R.(Hg.): Soziale Ungleichheiten, Sonderband 2 der Sozialen Welt, 183-196.
- Bude, Heinz 2008: Die Ausgeschlossenen. Das Ende vom Traum einer gerechten Gesellschaft, München.
- Geißel, Brigitte/Kern, Kristine/Klein, Ansgar/ Berger, Maria 2004: Einleitung: Integration, Zivilgesellschaft und Sozialkapital. In. Dies. (Hg.): Zivilgesellschaft und Sozialkapital. Herausforderungen politischer und sozialer Integration. Wiesbaden: VS-Verlag, 7-18.
- Gensicke, Thomas/Picot, Sibylle/Geiss, Sabine 2006: Freiwilliges Engagement in Deutschland 1999-2004. Wiesbaden: VS-Verlag.
- Putnam, Robert D. 1993: Making Democracy Work. Civic Traditions in Modern Italy. Princeton: Princeton University Press.
- Putnam, Robert D. 2000: Bowling Alone. The Collapse and Revival of American Community. New York et al.: Simon & Schuster. nsb3-2009.pmd 6 04.09.2009, 09:55