Die Europäische Union hat das Jahr 2011 zum Europäischen Jahr der Freiwilligentätigkeit erklärt. In den Mitgliedsländern der EU wurden Koordinationsbüros eingerichtet, um Veranstaltungen, Projekte und Öffentlichkeitsarbeit auf der nationalen Ebene zu unterstützen. Ziel des Jahres ist es, auf die gesellschaftliche Bedeutung von freiwilligem Engagement aufmerksam zu machen und Engagementpolitik in Europa zu stärken.
Dies ist eine große Aufgabe für dieses Jahr und angesichts der bescheidenen finanziellen Ausstattung des gesamten Jahres und der einzelnen nationalen Büros eine echte Herausforderung. Doch schon das UN-Jahr der Freiwilligen 2001 zeigte, dass der Erfolg eines solchen Jahres nicht in erster Linie eine Frage der Finanzen ist. Ein thematisches Jahr entfaltet vor allem durch den Willen der beteiligten politischen Akteure seine – in erster Linie – politisch-symbolische Wirkung. In dieser Weise kann das UN-Jahr vor einer Dekade ein ermutigendes Vorbild sein. In vielen Ländern entstanden im Kontext dieses Jahres Ansätze für eine Engagementpolitik. Das Politikfeld Engagement wurde gewissermaßen mit diesem UN-Jahr entdeckt. In Deutschland begann dieser Prozess bereits etwas früher mit der Einsetzung der Enquete-Kommission „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“ 1999, deren Ziele und Empfehlungen in einem Bundestagsunterausschuss weitergeführt werden und auch Anlass zur Gründung des Bundesnetzwerks Bürgerschaftliches Engagement (BBE) waren. Am 6. Oktober 2010 hat das Bundeskabinett erstmals eine „Nationale Engagementstrategie“ verabschiedet, die weitergeführt werden soll. Aber auch in Deutschland, wie in zahlreichen anderen Ländern der Europäischen Union, begann erst zu Beginn des neuen Millenniums eine systematischere politische Wahrnehmung und Bearbeitung des Themas freiwilliges Engagement.
Das Europäische Jahr der Freiwilligentätigkeit könnte nun diese aufkeimende Aufmerksamkeit für das Thema in der Politik und der Öffentlichkeit weiter stärken. Doch dies wäre nur ein erster Schritt. Ein europäisches Jahr hat weiterreichende Möglichkeiten und Aufgaben. Als junges Politikfeld geht es in der Engagementpolitik nicht nur um die Verfeinerung mehr oder minder etablierter Politikinstrumente, sondern es findet nicht unerheblich eine grundlegende Orientierung statt, welche Möglichkeiten bestehen und welche Ansätze der Engagementförderung und -politik erfolgversprechend sind. Gerade weil das Politikfeld jung ist, ist die Möglichkeit und der Bedarf, von den Erfahrungen anderer Länder zu lernen, besonders groß. Ein Jahr der Freiwilligentätigkeit als europäisches Jahr sollte daher verstanden werden als Anlass und Chance, innerhalb Europas Erfahrungen auszutauschen und voneinander zu lernen. Dass die Europäische Union als Initiator und Unterstützer dabei eine wichtige Rolle spielen kann, liegt auf der Hand.
Der Lernprozess voneinander ist gleichwohl nicht einfach. Ein genauerer Blick auf das Feld der Freiwilligentätigkeit in den europäischen Ländern zeigt eine bunte Vielfalt.1 Die Traditionen von Engagement und freiwilliger Arbeit sind ebenso unterschiedlich wie deren Ausmaß. Entsprechend bewegen sich politische Maßnahmen in sehr unterschiedlichen Feldern. Ein produktives Lernen von den europäischen Nachbarn ist daher nur möglich, wenn die Spezifika der Traditionen und Umfelder des Engagements in Rechnung gestellt werden. Erfolgreiches Lernen setzt genaue Kenntnisse, also vergleichende Forschung voraus. In diesem Sinne ist das Europäische Jahr der Freiwilligentätigkeit nicht nur eine Aufforderung an die Politik zu politischen Maßnahmen, sondern es ist auch eine Aufforderung an die Engagementforschung zu europäisch vergleichenden Betrachtungen und Studien. Und es ist eine Aufforderung an die Politik, sich dieser Forschung zu bedienen, um ein Verständnis der Erfahrungen anderer Länder in ihrem jeweiligen Kontext zu entwickeln. Ein Europäisches Jahr der Freiwilligentätigkeit ist also auch eine Aufforderung zur europäisch vergleichenden Betrachtung von Freiwilligentätigkeit und Engagementpolitik.
Das Europäische bei diesem Jahr kann und sollte aber noch einen Schritt weiter gehen. Freiwilligentätigkeit kann auch als solche europäisch sein, wenn sie transnational ist und/oder sich auf Europa und die Europäische Union bezieht. Engagement im europäischen Ausland kann Teil des Zusammenwachsens werden. Nicht nur in der ArbeitnehmerInnenfreizügigkeit oder der Bildungsmobilität liegt eine Chance für Europa, sondern auch in der Engagementmobilität.
Auf die Europäische Union bezogenes Engagement als politisches Engagement, sei es im Heimatland, sei es im europäischen Ausland, ist schließlich der dritte Aspekt, den ein Europäisches Jahr der Freiwilligentätigkeit aufnehmen sollte. Die Debatte um eine europäische Zivilgesellschaft (vgl. z.B. Kaelble 2004; Schuppert 2001) hat auf den Bedarf von Europa-orientierter zivilgesellschaftlicher Aktivität verwiesen, aber auch auf ihre Schwäche. Das Europäische Jahr der Freiwilligentätigkeit 2011 ist mit der Hoffnung verbunden, dass politische und gesellschaftliche Prozesse ausgelöst werden, die zu stärkeren Verbindungen der nationalen Zivilgesellschaften führen. Aus diesen Durchdringungsprozessen könnten Kerne einer europäischen Zivilgesellschaft gestärkt hervorgehen. Das Lernen voneinander, auch ein Verständnis der jeweiligen Traditionen und Hintergründe von Zivilgesellschaft in anderen Ländern, sind nicht nur Aufgaben für die Politik, sondern auch für die Zivilgesellschaft selbst. Auch hier hat die Europäische Union mit ihren Institutionen eine Aufgabe, die sie in Ansätzen wahrnimmt, die aber weiterer Stärkung bedarf. Einer fördernden Politik für die Zivilgesellschaft muss es dabei gelingen, einer entstehenden europäischen Zivilgesellschaft unter die Arme zu greifen, ohne ihre Autonomie zu untergraben. Kein einfacher Prozess, der gleichwohl von großer Wichtigkeit ist.
Die Aufgaben des Europäischen Jahres der Freiwilligentätigkeit 2011 sind entsprechend vielfältig und von unterschiedlicher Natur. Die Rolle der Europäischen Union dabei ist ebenfalls unterschiedlich. Eine europäische Engagementpolitik, die sich bisher allenfalls in Ansätzen abzeichnet, zielt auf neue Förderinstrumente oder die Erweiterung etablierter Förderverfahren. Sie zielt aber auch auf Standardisierungen zur Erleichterung von grenzübergreifendem Engagement und auf die Initiierung von gegenseitigen Lernprozessen (eventuell mit der Offenen Methode der Koordinierung). Viele wünschen sich, dass ein Weißbuch-Prozess in Gang kommt, in dem Politikansätze gebündelt werden und der eine größere politische Aufmerksamkeit auf die Förderung der Zivilgesellschaft durch europäische Institutionen, hier vor allem die Kommission, legt. Mit der europäischen Bürgerinitiative im Vertrag von Lissabon ist bereits eine wichtige Möglichkeit der Partizipation geschaffen worden, die nun von den europäischen Bürgerinnen und Bürgern auch genutzt werden muss. Hier wird auch die Rolle der Menschen in der Union selbst deutlich.
Diese drei Aufgaben eines Europäischen Jahres der Freiwilligentätigkeit, europäisches Lernen für nationale Engagementpolitik, Unterstützung von Engagement im europäischen Ausland und Stärkung einer Engagement-basierten europäischen Zivilgesellschaft, stecken ein breites und kompliziertes Feld ab. Ein Europäisches Jahr, ausgestattet mit geringen Mitteln, kann an dieser Erwartungsvielfalt scheitern, wenn die Aufgaben als Bringschuld der Europäischen Union oder der Kommission allein verstanden werden. Doch wie bereits betont: Die Stoßrichtung eines Europäischen Jahres ist nicht allein eine Erwartung an politische Institutionen, sondern eine Reorientierung öffentlicher Aufmerksamkeit, die in Aufgaben für viele Seiten mündet: für die Politik, die Medien, die Wissenschaft, die Zivilgesellschaft.
Das Forschungsjournal formuliert diese Aufforderung und nimmt sie mit diesem Heft auf. Dabei widmen wir zwei Strängen besondere Aufmerksamkeit. Einerseits betrachten wir das Feld der Engagementpolitik. Welche Aufgaben hätte eine europäische oder eine nationale europäisierte Engagementpolitik? Welche Schritte könnten genommen werden, wo bestehen Chancen und Handlungsbedarf? Anderer¬seits widmen wir uns dem Lernen von europäischen Nachbarn. Der Blick geht auf Freiwilligentätigkeit in anderen europäischen Ländern, nicht nur, aber natürlich auch mit der Frage, was sich lernen lässt. Nicht immer ergeben sich einfache Schlussfolgerungen. Aber nicht zuletzt für die Weiterentwicklung einer europäischen Zivilgesellschaft, die wir in einem anderen Heft behandelt haben (vgl. Forschungsjournal NSB 4/2008), ist jenseits von Möglichkeiten der Übernahme konkreter engagementpolitischer Maßnahmen ein Verständnis für die Traditionen und Hintergründe von Zivilgesellschaft in anderen Ländern ein wichtiger Schritt.
Den Auftakt macht ein Überblick über Umfang und inhaltliche Vielfalt von Freiwilligentätigkeit in den Ländern der Europäischen Union von Jochen Roose. Die unterschiedlichen Muster und die Vielfalt in den Ländern wird hier bereits ein erstes Mal deutlich, aber auch die Schwierigkeit, aus den großen Mustern politisch zu lernen. Politische Möglichkeiten fokussieren die folgenden drei Beiträge. John MacDonald präsentiert aus Sicht der Europäischen Kommission die Ziele des Europäischen Jahres, Markus Held vom European Volunteer Centre (CEV) diskutiert Ansätze und Leerstellen einer europäischen Engagementpolitik und Mirko Schwärzel vom Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement (BBE) kommentiert die Aussichten und Aufgaben des Jahres aus deutscher Sicht.
Der zweite Teil unseres Themenschwerpunktes widmet sich eingehend einigen Ländervergleichen. Jeannette Behringer betrachtet Freiwilligentätigkeit in Österreich und der Schweiz im Vergleich zu Deutschland, Mareike Alscher betrachtet Deutschland im Vergleich zu Frankreich und den Niederlanden. Rudolf Speth schließlich geht auf Großbritannien ein. Dass die Länderstudien „westlastig“ sind, ist nicht zufällig. Einerseits bieten sich aus deutscher Sicht die westlichen Nachbarländer stärker als Modelle an, weil in Mittelosteuropa nach der Transformation sehr spezifische Bedingungen vorliegen, die auch 20 Jahre nach der Wende noch deutlich nachwirken. Gleichzeitig spiegelt sich hier ein Schwerpunkt der vergleichenden Engagementforschung, die ebenfalls durch eine „Westlastigkeit“ geprägt ist. Dies lässt sich durch Forschungstraditionen und Kooperationsnetzwerke leicht erklären, markiert aber auch eine Aufforderung an die Engagementforschung.
Die Debatte um Aufgaben, Ziele und Möglichkeiten im Feld des Engagements ist Aufgabe, Ziel und Möglichkeit des Europäischen Jahres der Freiwilligentätigkeit 2011 selbst. Aufforderungen zum Handeln sind Teil dieser Debatte und werden in ein erfolgreiches Jahr münden, wenn sie nicht Aufforderungen bleiben, sondern Teil eines Diskurses zur Weiterentwicklung von europäischer Engagementpolitik und europäischer Zivilgesellschaft werden.
Jochen Roose (Berlin), Rudolf Speth (Berlin)
Anmerkung
1 Vgl. z.B. Gaskin und andere (1996), Europäische Kommission (2010) oder die Faktenzusammenstellung bei cev.be sowie natürlich die Beiträge in diesem Heft.
Literatur
- Europäische Kommission 2010: Volunteering in Europe. Brüssel, ec.europa.eu/citizenship/news/news1015_en.htm [8.11.2010]
- Gaskin, Katharine et al. 1996: Ein neues bürgerschaftliches Europa. Eine Untersuchung zur Verbreitung und Rolle von Volunteering in zehn Ländern. Freiburg: Lambertus.
- Kaelble, Hartmut 2004: Gibt es eine europäische Zivilgesellschaft? In: Gosewinkel, Dieter et al. (Hg.): Zivilgesellschaft – national und transnational. WZB-Jahrbuch 2003. Berlin: sigma, 267-285.
- Schuppert, Gunnar Folke 2001: Europäische Zivilgesellschaft – Phantom oder Zukunftsprojekt? In: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen, Jg. 14, Heft 4, 5-13.