Was bleibt vom Arabischen Frühling?
Die arabische Staatenwelt wandelt sich gegenwärtig mit einer ungeheuren Dynamik. Als Ende 2010 die Menschen in Tunesien, einem kleinen und regional eher unbedeutenden arabischen Land, auf die Straße gingen, um gegen Unterdrückung, Korruption und soziale Ungerechtigkeit zu protestieren, war kaum vorherzusehen, dass nur vier Wochen später das Ende der 23jährigen Herrschaft Ben Alis besiegelt sein sollte. Schnell sprang der Zündfunke auf alle anderen arabischen Länder über. Das Lauffeuer, das durch den Tod des Gemüsehändlers Mohamed Buazizi losgetreten wurde, überraschte nicht nur die autoritären Herrscher der Region, sondern ebenfalls den Rest der Welt, die die Ereignisse seither mit Erstaunen und Besorgnis verfolgt.
Verwundert reagierten viele darauf, dass gerade in den arabischen Diktaturen der Aufstand geprobt wurde, wo doch den Bürgerbewegungen in diesen Staaten keine allzu hohe Präsenz und auch kein Einfluss zugetraut wurde. Seit Jahrzehnten hatten die despotischen Regime ihre Gesellschaften fest im Griff und es schien, als befinde sich Arabien im Stillstand einer versiegelten Zeit. Und dies, obwohl die sozio-ökonomischen Probleme bereits seit langem bekannt waren: Alle arabischen Staaten sind sehr junge Gesellschaften – zwischen 65 und 75 Prozent ihrer Bevölkerung sind unter 35 Jahre alt (Perthes 2011: 30). Nahezu alle Staaten der Region weisen eine extrem ungleiche Einkommensverteilung auf, der Abstand zwischen Arm und Reich hat trotz des Wirtschaftswachstums deutlich zugenommen, und insbesondere die jungen, gut Ausgebildeten sehen sich ihrer Zukunftsperspektiven beraubt. Fehlende politische Teilhaberechte, eingeschränkte bürgerliche Freiheiten sowie Vetternwirtschaft und Korruption haben zu politisch und gesellschaftlich verkrusteten Strukturen geführt, die nun im Dominoeffekt aufbrechen.
Welchen Verlauf die Umwälzungsprozesse in den jeweiligen Ländern nehmen und welche Konsequenzen die Ereignisse für Israel und die Region sowie für Europa und die USA haben, ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt nur schwer abzuschätzen. Offensichtlich ist allerdings, dass die Protestbewegungen in den arabischen Ländern die Karten im regionalen Machtpoker neu gemischt haben. Die langjährige Zweiteilung in das pro-westliche und das pro-iranische Lager verliert an Bedeutung, und die Eigendynamiken der Protestwelle bringen alte Allianzen und stabile Feindschaften ins Wanken. Die Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen Ägypten und dem Iran, der Einmarsch Saudi-Arabiens in den Bahrain ohne vorherige Absprache mit den USA sowie das selbstbewusste Auftreten der Türkei als Regionalmacht sind hierfür nur einige Beispiele.
Für Israel, das immer mehr in die Isolation gerät, sind insbesondere die Entwicklungen in Ägypten und Syrien von bedrohlicher Natur – ist doch völlig offen, in wessen Hände das Waffenarsenal nach einem Sturz des Assad- Regimes gerät. Der Arabische Frühling wird dort insgesamt mit großer Skepsis bewertet und die Gefährdung der eigenen Sicherheit befürchtet. Vor allem die zunehmende Instabilität Ägyptens, welche Israel nicht nur um den wichtigsten Bündnispartner im Nahen und Mittleren Osten zu berauben droht, sondern auch von gewaltsamen Auseinandersetzungen im Sinai und damit an der Grenze zu Israel begleitet wird, ist hier zu nennen.
Trotz der Schnelllebigkeit der Ereignisse war für die Redaktion des Forschungsjournals relativ schnell klar, dass sich der Arabische Frühling und seine Folgen in einem Heft widerspiegeln sollten. Das Forschungsjournal versteht sich als Begleiter sozialer Bewegungen und der durch sie ausgelösten Transformationen. Als dieses Heft geplant wurde, ging die Redaktion noch davon aus, eineinhalb Jahre nach dem Arabischen Frühling eine erste Bilanz der Proteste und ihrer Folgen ziehen zu können. Doch im Entstehungsprozess des Heftes wurde immer deutlicher, dass wir uns noch mitten in den Umwälzung befinden und dass der Ausgang in den meisten Ländern noch offen ist. So sind viele der Artikel Bestandsaufnahmen, die vielleicht sogar bei Drucklegung schon wieder von neuen Geschehnissen überholt werden. Dennoch haben wir das Unterfangen nicht aufgegeben und liefern aktuelle Stimmungsbilder und Analysen aus den arabischen Ländern. Dabei wurde bei der Auswahl der Autoren auf eine Mischung aus Wissenschaftlern und Aktivisten geachtet, um ein möglichst authentisches und fundiertes Bild der Entwicklungen in der arabischen Welt zu liefern.
Die Beiträge bieten zum einen tiefere Einblicke in die Entwicklungsprozesse einzelner Länder: so zum Beispiel der Beitrag von Felipe Daza Sierra zur irakischen Zivilgesellschaft und die Interviews mit Ferhad Ahma zu den Unruhen in Syrien, mit Hiba Wakrim zu den Perspektiven marokkanischer Jugendlicher sowie mit Laila El Balouty zu den Erfolgen und Fehlern der ägyptischen Protestbewegung. Zum anderen nehmen die Beiträge von Kristian Brakel, Maximilian Felsch, Nadine Sika und Ingrid El Masry eine vergleichende Meta-Perspektive ein.
Mit diesem Spagat zwischen „Tiefenbohrung“ und „Meta-Vergleich“ will dieses Heft zum einen Zeitzeugnis sein, zum anderen aber auch einen Beitrag zur Erforschung dieser Transformationsprozesse leisten. Dabei geht es in den Hauptbeiträgen wie auch in der Sammelrezension um die grundlegenden Fragen nach den Ursachen und den Trägern der Protestbewegungen, den Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen den unterschiedlichen Ländern sowie um die Auswirkungen des Arabischen Frühlings auf die Region und die internationalen Beziehungen.
Zu Beginn geht Maximilan Felsch im Anschluss an Max Weber auf die Legitimierung von Herrschaft ein und zeigt, warum die Herrscher im arabischen Raum ihre Legitimität verloren haben beziehungsweise wie die nachrevolutionären Systeme wieder Legitimität gewinnen können. Einen Vergleich zwischen der friedlichen Revolution in der DDR und dem Arabischen Frühling in Ägypten strengt anschließend Nadine Sika an, die dabei interessante Parallelen, aber auch signifikante Unterschiede zwischen den Protestbewegungen ausmacht.
Dass die Umbrüche in den jeweiligen arabischen Ländern weit über ihre nationalstaatlichen Grenzen hinausreichen, zeigt Kristian Brakel in seinem Beitrag über die Auswirkungen der gegenwärtigen Umbrüche auf die internationale Politik. Er beobachtet den Beginn einer neuen Ära in der Region, der, so seine Einschätzung, von einem deutlichen Machtverlust der USA und Europas sowie einer Schwächung Irans begleitet werde. Deutlich an Einfluss hinzugewonnen habe hingegen die Türkei, die innerhalb kürzester Zeit ihre Außenpolitik den Entwicklungen anpasste und vielfach als Vorbild für mögliche Modelle eines politischen Systems nach dem Arabischen Frühling betrachtet wird (vgl. Aksoy 2012).
Wie unterschiedlich die Protestbewegungen sowohl innerhalb eines Landes als auch innerhalb der Region im Hinblick auf die Mobilisierung von Protest, die Forderungen und die Aktivitäten der Protestierenden verlaufen, zeigen die Portraits der Oppositionsbewegungen in Syrien (Ferhad Ahma), Marokko (Hiba Wakrim), Ägypten (Laila El Balouty) und Irak (Felipe Daza Sierra). Syrien steht aufgrund der brutalen Repressionen des Assad-Regimes zum gegenwärtigen Zeitpunkt nahezu täglich in den Schlagzeilen und viele Beobachter befürchten einen entlang ethnischer Konfessionsgrenzen verlaufenden Bürgerkrieg. Ferhad Ahma, Mitglied des Syrischen Nationalrates, erklärt die Besonderheiten der Situation in Syrien im Vergleich zu den gewalttätigen Ausschreitungen in Libyen, erörtert die Ziele und Organisationsstrukturen der syrischen Oppositionsbewegung und nennt Bedingungen für einen friedlichen Übergang.
Hiba Wakrim, Generalsekretärin der Vereinigung Maroc Plus, beleuchtet den arabischen Frühling aus der Perspektive der marokkanischen Jugendlichen. Sie kritisiert, dass diese zu oft auf der Ebene der Kritik verbleiben, ohne zugleich konstruktive Vorschläge zu machen, wie die herrschende Ordnung umgestaltet werden könne. Auch Laila El Balouty, Schauspielerin und Aktivistin, zieht im Hinblick auf die Entwicklungen in Ägypten eine durchaus kritische Zwischenbilanz: In dem Verlust der Einheit innerhalb der Oppositionsbewegung sieht sie die zentrale Ursache für die chaotischen Verhältnisse und die Patt-Situation zwischen Militärrat auf der einen und dem neu gewählten Parlament sowie dem neu gewählten Präsidenten auf der anderen Seite. Felipe Daza Sierra betrachtet die Entwicklung der Zivilgesellschaft im Irak seit der US-amerikanischen Besatzung bis zu den jüngsten Umbrüchen in den arabischen Nachbarländern.
Eine vergleichende Bewertung der Protestbewegungen versucht der abschließende Beitrag von Ingrid El Masry. Die Proteste wurden seit dem Beginn des Arabischen Frühlings schnell mit den Begriffen „Revolution“ oder „Demokratisierung“ belegt und der Autoritarismusforschung herausfordernd entgegengehalten.
Rund eineinhalb Jahre nach den ersten Demonstrationen könne, so El Masry in Bezug auf Tunesien und Ägypten, jedoch nur begrenzt von deren Erfolg oder dem Beginn eines tiefgreifenden Transformationsprozesses gesprochen werden. Zu begrenzt seien die regionale Verbreitung und der Fortschritt. Im Großteil der Region fänden kaum Proteste statt oder sie würden von den Regimes schnell unterbunden. Während in Tunesien die erste Transformationsphase erfolgversprechend angelaufen sei, strauchele Ägypten auch nach mehr als eineinhalb Jahre seit dem Sturz seines Präsidenten. Der Stoßrichtung der Umwälzungsprozesse innerhalb der Region sei nach wie vor ungewiss. Es bleibe zu hoffen, dass der hoffnungsvoll begonnene arabische Frühling nicht in einen tragischen Herbst übergeht.
In der „Aktuellen Analyse“ diskutiert Roland Benedikter, Europäischer Stiftungsprofessor für Zeitanalyse und politische Soziologie an der Stanford University, den Begriff des „Postmaterialismus“ unter veränderten globalen Konstellationen. Er plädiert für einen Wandel vom „Postmaterialismus“ zum „Metamaterialismus“. Die materiellen Errungenschaften des Kapitalismus gelte es nicht zu verabschieden, sondern einen neuen, nachhaltigeren, gemeinnützigeren, an den Menschenrechten orientierten Kapitalismus zu entwickeln. Der Rückhalt für dieses Vorhaben finde sich in der emanzipativen Dimension der Bürgergesellschaft, im „Occupy Wall Street Movement“ oder „99% Movement“. Parallel erscheint online auf der Homepage des Forschungsjournals als Supplement zu Heft 3 ein Beitrag von Roland Benedikter und Victor Faessel, Programmdirektor des Orfalea-Zentrums für Globale und Internationale Studien der Universität von Kalifornien, zu „Mythologie und Politik im US Präsidentschaftswahlkampf“ (www.forschungsjournal.de/fjsb-plus).
Gabriele Schmidt (Berlin), Karin Urich (Mannheim), Nadine Kreitmeyr (Tübingen), Ansgar Klein (Berlin)
Sonderschwerpunkt: „Auf dem Weg zum Wahljahr 2013“
Joachim Raschke, Elmar Wiesendahl und Ralf Tils von APOS (Agentur für politische Strategie), der Mitherausgeber des Forschungjournals Thomas Leif und die Heinrich Böll Stiftung luden im Frühjahr 2012 zum 7. Strategie- Workshop nach Berlin ein. Zahlreiche Vertreterinnen und Vertreter aus Politik, Wissenschaft und Medien diskutierten über Strategieoptionen der fünf im Bundestag vertretenen Parteien. Besonderes Interesse fand dabei die Frage nach der Rolle der Piraten mit ihren Wahlerfolgen seit den Berliner Abgeordnetenhauswahlen in 2011.
Strategieoptionen und Prognosen mit Blick auf die Bundestagswahl im Herbst 2013 sind in aufgeregten Zeiten mit beinahe täglich wechselnden Politikagenden immer schwierig. Wer hätte denn etwa nach dem 6. Workshop gedacht, dass beim siebten Zusammentreffen die Piratenpartei überhaupt ein Thema ist? Als ebenso wenig aussagekräftig müssen die aktuell hohen Popularitätswerte der Bundeskanzlerin gewertet werden – die im Übrigen keineswegs mit einer Popularitätssteigerung der eigenen Partei oder gar der Regierungskoalition einhergehen. Nicht minder schwer zu erklären ist es, dass die SPD partout nicht von der schlechten Performance der Regierungskoalition profitiert. Gewiss, die SPD stellt seit geraumer Zeit wieder einige Regierungschefs in den Bundesländern. Doch wurden nirgendwo – Ausnahme: Nordrhein-Westfalen – nennenswerte Stimmenzuwächse erkennbar. Sie profitierte vielmehr vom (noch größeren) Verdruss gegenüber der Union und der FDP.
Dabei zeigen Untersuchungen immer wieder: Die gesellschaftlichen Bedingungen für einen Regierungswechsel sind vorhanden. Folgt man der Logik des lagerpolitischen Denkens, existiert seit 1998 eine linke Mehrheit jenseits des bürgerlichen Lagers. Es ist der SPD seit 2005 jedoch nicht gelungen, diese Bedingungen mit einer entsprechenden Politik zu nutzen und attraktive inhaltliche wie personelle Angebote für die Wahlbevölkerung und potentielle Koalitionspartner aufzustellen; schlimmer noch: Es gelang weder 2005 noch 2009, das Wählerpotential auszuschöpfen bzw. die eigenen Wähler an die Urne zu bekommen. Für 2013 kann dies nur dann gelingen, wenn die Partei sich personell wie inhaltlich so positioniert, dass eine Alternative zur jetzigen Regierung sichtbar wird. Dies erfordert auch eine konsequente Oppositionspolitik. Eine – sicher schlechte – alternative Politik wäre, wie eigentlich bisher auch, im Machtmodus der Bundeskanzlerin mitzumachen. Wohin dies 2009 führte, ist klar...
Vielleicht ist es ein wenig pathetisch, aber die Menschen warten durchaus auf einen Politikentwurf, der wieder Begeisterung bei ihnen auslöst; der ihnen aufzeigt, an welcher Stelle sie in politischen Entscheidungsprozessen direkt teilhaben können; eine Programmatik, die keineswegs und immer öfter der undemokratischen Logik von sogenannter „Alternativlosigkeit“ folgt. Sicher, die ökonomischen Rahmenbedingungen haben mehr denn je einen enormen Einfluss auf politische Entscheidungen. Umso dringender muss freilich offen diskutiert werden, wie demokratische Verfahren eben nicht an Gewicht verlieren; warum es eben nicht auf eine „marktkonforme“ (Angela Merkel) Demokratie hinauslaufen darf. Eine solche Politikagenda, verbunden mit einer selbstbewusst formulierten Machtperspektive, wäre von einer vitalen Opposition zu erwarten. Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen sind vorhanden. Die Union, mit der Bundeskanzlerin als klarer Führungsperson an der Spitze, wird für 2013 (wie schon 2009 erfolgreich vorgeführt) versuchen, keine inhaltlichen Diskussionen zuzulassen oder sich gar klar zu positionieren. Alles auch im Wissen darum, selbst immer weiter an Profil zu verlieren und Enttäuschungen ehemaliger Stammwähler zu provozieren. Frei nach der Devise: Hauptsache mehr Stimmen als die SPD, um weiter Anspruch auf das Kanzleramt zu haben.
Der Sonderschwerpunkt dieser Ausgabe vertieft in diesem skizzierten Kontext strategische Herausforderungen und Fragen für große wie für kleine Parteien. Joachim Raschke/ Ralf Tils, Cem Özdemir, Boris Palmer, Gerd Mielke, Oliver Schmolke, Richard Hilmer und Sebastian Nerz tun dies auch und vor allem im Lichte der Erkenntnisse und Diskussionen des 7. Strategieworkshops.
Das Forschungsjournal möchte sich an dieser Stelle bei den Organisatoren des Workshops und den Autoren für ihre Beteiligung am Sonderschwerpunkt dieses Heftes herzlich bedanken.
Peter Kuleßa (Berlin), Thomas Leif (Wiesbaden), Jan Rohwerder (Aachen)
Literatur
- Aksoy, Hürcan Asli 2012: Die Türkei im Nahen Osten: Neujustierung der türkischen Außenpolitik. In: Bürger im Staat 1/2012, S. 80-87.
- Perthes, Volker 2011: Der Aufstand. Die arabische Revolution und ihre Folgen. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung.