Es tut sich etwas in der Europäischen Union (EU), das bleibt niemandem verborgen. Doch weil die Krise in der EU das Unterste zuoberst kehrt, bleibt anderes fast unbemerkt. Während in den Medien intensiv über Rettungsschirme, Troika-Berichte und vor allem umfassende Vertiefungsschritte oder Austritte aus der EU diskutiert wird, hat ein demokratisches Instrument, das neu im Lissabon-Vertrag verankert wurde, kaum Aufsehen erregt. Es handelt sich dabei um die Europäische Bürgerinitiative (EBI).
Mit der EBI wurde ein partizipatives Instrument geschaffen, das EU-Bürger/innen die Möglichkeit bietet, sich direkt in die europäische Politik einzumischen. Eine Million EU-Bürger/innen aus derzeit sieben Mitgliedstaaten können die Europäische Kommission auffordern, einen Rechtsakt vorzuschlagen. Voraus geht dieser Aufforderung die Bildung eines Ausschusses mit Bürger/innen aus mindestens sieben Mitgliedstaaten, der ein Anliegen bei der Kommission einreicht und als Ansprechpartner für die Kommission dient. Nach positiver Prüfung der jeweiligen Initiative durch die Kommission (so muss die Initiative sich innerhalb der Verträge bewegen und darf nicht vertragsändernd sein), ist der Weg frei für die Sammlung der Unterschriften. Die EBI ist damit ein einzigartiges Instrument partizipativer Demokratie, mit dem durch transnationale Kooperation und Kommunikation von EUBürger/innen die politische Agenda der EU beeinflusst werden kann. Inzwischen sind 12 Initiativen bei der Kommission registriert – die erste, Fraternité 2020 (vgl. Gastinger/Jürgens in diesem Heft), bekam am 9. Mai 2012 grünes Licht, Unterschriften zu sammeln. Mittlerweile sind erste Erfahrungen gemacht und Kinderkrankheiten, wie technische Schwierigkeiten des Online-Sammelsystems, überwunden. Interessant sind allerdings vor allem die grundsätzlichen Chancen, mit der EBI eine Demokratisierung der EU zu erreichen.
Bei jeder größeren Vertragsreform in den vergangenen Jahrzehnten gab es das Bemühen, das politische System der EU demokratischer zu gestalten. Der Vorwurf eines demokratischen Defizits begleitet die EU seit ihrer Gründung, wobei der Maßstab meist eher an einem Idealbild der Demokratie ausgerichtet ist, sekundär auch am Vergleich mit existierenden Nationalstaaten (Wimmel 2008). Die ergriffenen Gegenmaßnahmen bestanden zumeist in der Stärkung des direkt gewählten Europäischen Parlaments, was durch das Wähler/inneninteresse allerdings kaum honoriert wurde (vgl. FJ NSB 2/2009). Zu den Maßnahmen gehören aber auch die Veröffentlichung von Protokollen der Ratssitzungen oder Online-Konsultationen (vgl. FJ NSB 2/2008). Der Vertrag von Lissabon ergänzt diese Bemühungen mit der Europäischen Bürgerinitiative nun um ein weiteres direkt-partizipatives Instrument.
Doch wie leistungsfähig, wie demokratisierend ist eine solche neue Partizipationsmöglichkeit auf europäischer Ebene tatsächlich? Das ergibt sich erst aus den Details, der Kultur der Umsetzung und der praktischen Nutzung. Das Forschungsjournal diskutiert Potenziale und Einschränkungen dieses Instruments der Demokratisierung. Wie ist die EBI zustande gekommen und welche Hoffnungen werden mit ihr verbunden? Welche Erfahrungen gibt es mit direkt-partizipativen und direkt-demokratischen Instrumenten in Nationalstaaten weltweit? Wie werden sich die EU, die europäische Öffentlichkeit, die europäische Zivilgesellschaft, die europäische Demokratie durch dieses Instrument verändern? Und welche Schlüsse lassen sich aus den ersten, bereits gestarteten Initiativen ziehen?
In ihrem einführenden Beitrag stellen Julian Plottka, Katrin Böttger und Annette Knaut die EBI im Detail vor. Der Beitrag erläutert ihren Entstehungshintergrund und klärt, welche Bedingungen erfüllt sein müssen und welche Schritte für eine Initiative nötig sind. Darauf aufbauend präsentieren die Autor/innen zentrale Thesen der Diskussion um die Potenziale und Grenzen der EBI. Jo Leinen, Mitglied des Europäischen Parlaments seit 1999 und zwischen 2004 und 2009 Vorsitzender des Ausschusses für konstitutionelle Fragen, sieht in der EBI einen wichtigen Schritt hin zu einer Europäischen Öffentlichkeit, in der die Bürger/innen ihre gemeinsamen Probleme artikulieren und Lösungen entwickeln. Paolo Ponzano hat die Europäische Kommission bei der konkreten Umsetzung der Vorgaben aus dem Lissabonner Vertrag für die EBI beraten und berichtet von der Entstehungsgeschichte und den mit ihr verbundenen Hoffnungen. Annette Knaut und Reiner Keller beschäftigen sich mit der Öffentlichkeitswirksamkeit von EBI. Dabei verwerfen sie das mittlerweile klassische Konzept einer europäischen Öffentlichkeit und schlagen vor, die pluralen Öffentlichkeiten der EU als transnationale Diskursräume zu begreifen. Einen Überblick über direktpartizipative und direkt-demokratische Verfahren geben Laurent Bernhard und Theo Schiller. Bernhard thematisiert Erfahrungen in der Schweiz, während Schiller den Blick allgemeiner über die EU und Europa hinaus richtet. Markus Gastinger und Georg Jürgens berichten aus eigener Erfahrung von der ersten registrierten EBI, der Fraternité 2020, und den Startschwierigkeiten in der praktischen Umsetzung. Christine Quittkat schließlich fragt auf Basis der formalen Regeln und der ersten Initiativen, in welchem Maße die EBI neuen Akteuren den Weg in das europäische politische System ermöglicht und in dieser Weise demokratisierend wirkt.
Die EBI muss sich in der Praxis bewähren. Sie muss ein Instrument werden, das die europäischen Bürger/innen zur Politik einlädt, das Chancen einer Einflussnahme bietet, ohne randständigen Partikularinteressen und Populismus zu ungerechtfertigter Dominanz zu verhelfen. Ob sie ein demokratisierendes und europäisierendes Partizipationsinstrument für die Bürger/ innen in der EU wird, hängt nicht nur von der erfolgreichen formalen Umsetzung ab. Auch die Institutionen der EU müssen sich neu bewähren. Ihr konstruktiver, unterstützender Umgang mit den formulierten Anliegen stellt jenseits aller bereits eingelösten und öffentlich stark unterschätzten Offenheit neue Anforderungen an die Europäische Kommission. Sie muss eine Kultur der einflussreichen demokratischen Teilhabe weiter entwickeln und kommunizieren. Wenn es der Kommission gelingt, dass Bürger/innen die EBI als Instrument der effektiven Einflussnahme und Diskussion über EU-Politiken annehmen, könnte die EBI einen Beitrag zur Demokratisierung der EU leisten und wäre somit mehr als nur eine Beschäftigungstherapie. Ob das gelingt, wird aber auch von der öffentlichen Beurteilung und daraus resultierenden pauschalen Einschätzungen über die EU abhängen. Gerade in dieser Hinsicht ist die EU alles andere als verwöhnt. Ein nüchterner, kritischer Blick, der Mögliches und Ideales zu trennen weiß, wird da helfen.
Vera Faust (Aachen), Jochen Roose (Berlin), Annette Knaut (Landau), Katrin Böttger (Berlin), Julian Plottka (Berlin)
Literatur
- Wimmel, Andreas 2008: Die demokratische Legitimität europäischen Regierens: ein Labyrinth ohne Ausgang? In: integration, Jg. 31, Heft 1, 48-64.
Sonderschwerpunkt „Bürgerschaftliches Engagement junger Menschen in der alternden Gesellschaft“
Im Sonderschwerpunkt dokumentieren wir das 7. Forum Bürgergesellschaft, das am 27. und 28. April 2012 in Diedersdorf bei Berlin stattfand. Unter dem Titel „Bürgerschaftliches Engagement junger Menschen in der alternden Gesellschaft – Motor für eine lebendige Bürgergesellschaft?“ diskutierten auf Einladung der Stiftung Bürger für Bürger rund 20 Expertinnen und Experten über das Engagement junger Menschen. Das Spektrum der Impulse reichte dabei von grundsätzlichen Betrachtungen bis hin zu konkreten Beispielen und Erfahrungen aus der Praxis.
Sibylle Picot zeigt anhand der Ergebnisse des Freiwilligensurveys allgemeine Entwicklungen des Engagements junger Menschen auf. Daniel Grein und Jan Schlemermeyer betrachten in ihren Beiträgen diese Entwicklungen nicht nur kritisch, sondern zeigen auch Perspektiven auf und erläutern die Rolle der Jugendverbände. Mit den Jugendverbänden beschäftigt sich auch Timm Falkowski. Er illustriert am Beispiel der Deutschen Jungendfeuerwehr, wie dort das Engagement für Jugendliche gestaltet wird. Eine ebenfalls wichtige Rolle für das Engagement junger Menschen spielt die Schule. Olaf Ebert setzt sich in seinem Impuls damit auseinander, welchen Veränderungen das Engagement junger Menschen in Sachsen-Anhalt ausgesetzt ist, und zeigt Möglichkeiten auf, wie Schulen unterstützt werden können, das Engagement der Schülerinnen und Schüler zu fördern. Bei der Auseinandersetzung mit dem Engagement Jugendlicher darf selbstverständlich das Thema Internet nicht fehlen. Maik-Carsten Begemann stellt die Ergebnisse einer Studie des Deutschen Jugendinstituts vor, die verschiedene Dimensionen der Internetnutzung im Zusammenhang mit freiwilligem Engagement untersucht hat. Thomas Olk reümiert die Ergebnisse der Tagung. Die „Diedersdorfer Erklärung“ fasst die wichtigsten Anliegen der Teilnehmer zusammen.
Tobias Quednau (Berlin)