Ein Problem sozialwissenschaftlicher Begriffs- bildung ist, wenn sie allzu alltags- und umgangssprachlich verfährt. Einerseits kann sie dann wissenschaftliche Konzepte eingängig machen, weil jeder eine vage Vorstellung davon hat, was etwa eine „Rolle“ ist. Anderseits laden solche Begriffe zu einer verwässernden Verwendung ein, weil eben jeder oder jedem etwas anderes zum Thema „Rolle“ einfällt. Trennschärfer verfährt eine wissenschaftliche Disziplin, wenn sie sich auch in ihrer Sprache diszipliniert und mit allerlei semantischen Kunstgriffen Präzision erzeugt. Der Eingeweihte weiß dann recht genau, was unter „Autopoiesis“ zu verstehen ist. Aber eben auch nur der Eingeweihte.
In dieser Hinsicht mag es verfänglich sein, gerade im Kontext sozialer Bewegungen von „Schlüsselfiguren“ zu sprechen. Es ist vielleicht kein allzu geläufiger Begriff, aber er wird im Zweifel mit der Vorstellung von bekannten oder einflussreichen Personen assoziiert sein. Aus Sicht des im Heft vorgestellten Ansatzes ist das ein Missverständnis. Mehr noch: Die Vorstellung, es gäbe und bräuchte in sozialen Bewegungen herausgehobene und prominente Figuren, stößt dort auf Unwillen und Unverständnis. Wo sonst ist die Sensibilität für die – auch in Bewegungen recht alltäglichen – Dominanzen Einzelner, für Machtgefälle und Hierarchien so ausgeprägt wie in zeitgenössischen (linkslibertären) Protestkontexten? Die Versuchung liegt also nahe, Schlüsselfiguren über deren Einfluss in die Bewegung und in die Öffentlichkeit zu identifizieren. Wenn Medien über soziale Bewegungen berichten, dann nicht selten in personalisierter Weise. Für die Anliegen der Anti-Atom-Bewegung wird dann etwa Jochen Stay befragt, der in der Berichterstattung dann wahlweise als „Protest-Ikone“, „Veteran“ oder „Anstifter“ beschrieben wird. Aber auch in der Bewegungsforschung gibt es, zumindest im englischsprachigen Raum, eine Tradition, die diese Perspektive stark macht und die Relevanz von Leadership, also die Bedeutung von Führungsfiguren in Bewegungen untersucht.
Um das Konzept der Schlüsselfiguren zu schärfen, sind also Differenzierungen nötig. Gegen die intuitive Vermutung, Schlüsselfigu- ren seien wissenschaftlich deshalb so interessant, weil sie besonders einflussreich sind, wird im Heft betont, dass der Schlüsselfigurenansatz vor allem aufschlussreich sein möchte. Er erschließt ein anderes Verständnis davon, was soziale Bewegungen sind und wie sie entstehen. Schlüsselfiguren werden als eine Ordnung informeller, mit spezifischen Funktionen versehenen, Rollen in einer Bewegung verstanden, mit deren Hilfe sich erklären lässt, wie sich Bewegungen gerade in ihrer Entstehungsphase jenseits formaler Organisationsstrukturen stabilisieren können. Das ist nicht zuletzt eine sehr gegenwärtige Herausforderung, wie die aktuelle Analyse von Ruth Simsa zeigt. Sie diagnostiziert in ihrem Beitrag ein Auseinan- derdriften der neuen, stark informellen Protestformen in den finanzkrisengeschüttelten Industrienationen oder der arabischen Welt auf der einen Seite und den institutionalisierten Strukturen der Zivilgesellschaft auf der anderen. Wie lassen sich aber Protestbewegungen analytisch fassen, die sowohl formale Strukturen als auch ein starkes Leadership ablehnen?
Der Themenschwerpunkt zu Schlüsselfiguren in sozialen Bewegungen will auf diese Frage aus drei Blickwinkeln Antworten geben. In einem ersten theoretisch-konzeptionellen Teil eröffnen Alexander Leistner und Andreas Pettenkofer die Diskussion um den Schlüsselfigurenansatz. Leistner skizziert in seinem einführenden Beitrag das analytische und theoretische Potential des Ansatzes zur Erklärung der Selbststabilisierung sozialer Bewegungen. Pettenkofer beschreibt das Konzept als einen alternativen Erklärungsansatz zu rationalistischen Konzepten der Bewegungsforschung. Dieter Rucht plädiert für ein Konzept multipler exponierter Schlüsselfunktionen und eine entsprechende Typologie von Schlüsselfiguren. Silke Roth verbindet die Beteiligung in sozialen Bewegungen mit der Beteiligung in anderen Lebensbereichen und versteht Schlüsselfiguren als Mittler zwischen Zivilgesellschaft, öffentlichem Bereich und Wirtschaft.
Im zweiten Teil des Themenschwerpunktes werden konkrete Fallstudien zu Schlüsselfiguren in einzelnen Bewegungen vorgestellt. Fabian Virchow bietet in seinem Beitrag einen erhellenden Einblick in die Bedeutung von Schlüsselfiguren der extremen Rechten in Deutschland. Die besondere Bedeutung einzel- ner Figuren im Unterschied zu anderen Bewegungen liefert ein vertieftes Verständnis dieser Bewegung, die ohne charismatische Führerfigur auskommt und sich durch starke lokale Verankerung auszeichnet. Christian Fröhlich nimmt mit zeitgenössischen Anarchiebewegungen in Russland den theoretisch interessanten Fall in den Blick, wie diese sich trotz Ablehnung institutionalisierter Strukturen etablieren konnten. Thomas Schmidt-Lux fragt, welche Schlüsselfiguren für die kurzlebigen und unor- ganisierten Phänomene vigilanter Gruppen konstitutiv sind und zeigt in einer Fallstudie, wie sich eine lokale Initiative über Jahre über die Figur ihres zivilisierenden Anführers stabilisieren konnte. Die Selbstverbrennung Jan Palachs als Reaktion auf die Niederschlagung des Prager Frühlings durch den Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes analysiert die Historikerin Sabine Stach in ihrem Beitrag in der Rubrik „Pulsschlag“ in einer Fallstudie. Sie fragt nach dem zivilgesellschaftlichen Mobilisierungspotential von Märtyrerdiskursen und macht die ambivalenten, keineswegs zwingend funktionalen Wirkungen des Aktes der Selbstverbrennung auf die tschechoslowakische Opposition deutlich. Alle vier AutorInnen vertiefen und ergänzen in ihren Beiträgen mit empirischen Zugängen das Konzept der Schlüsselfunktionen und –figuren sozialer Bewegungen.
Der dritte Teil des Themenschwerpunktes versammelt schließlich Erfahrungen aus der Praxis aktueller und historischer Bewegungen. Bekannte und weniger bekannte Schlüsselfiguren der Antifa-, Friedens-, Anti-AKW- und Klimabewegung kommen hier zu Wort. Der derzeit inhaftierte russische Antifaschist Alexej Gaskarow berichtet in seinem Brief aus dem Gefängnis darüber, wie er für die Öffentlichkeit und die Sicherheitsbehörden zum Gesicht der antifaschistischen Bewegung in Moskau wurde und mit welchen Konsequenzen diese Entwicklung verbunden war. Hansjörg Weigel – ein Urgestein der DDR-Friedensbewegung – schildert die mühsamen Anfänge und Anläufe, die mit langem Atem schließlich zur Gründung des ersten staatsunabhängigen Friedensseminars in der DDR führte. Beide verkörpern – zu unterschiedlichen Zeiten – eindrücklich den Mechanismus des Zeugnis-Ablegens, des aktiven Einstehens für die eigenen Überzeugungen auch unter den Bedingungen staatlicher Repression. Gerade Gaskarows Text erinnert die saturierten Zivilgesellschaften der westlichen Demokratien zudem daran, wie gefährlich und existentiell Engagement vielerorts ist. Die beiden Interviews, die das Forschungsjournal jeweils mit Wolfgang Hertle und Mona Bricke geführt hat, lesen sich wie ein fiktiver Bewegungsdialog zwischen den Angehörigen unterschiedlicher Generationen und ideologischer Flügel. Beide verbindet, dass sie als VernetzerIn und VermittlerIn agier(t)en und dass sie versuch(t)en, weitreichende gesellschaftliche Protestanliegen vor Ort zu verankern, Hertle in der Anti-AKW-Bewegung und Bricke in der heutigen Klimabewegung.
Der Themenschwerpunkt wird dramaturgisch durch den Pulsschlag-Beitrag von Jutta Sundermann abgerundet: Sie greift die Irritationen auf, die der Ansatz der Schlüsselfiguren auf den ersten Blick in sozialen Bewegungen auslöst. In ihrem Text stellt sie das von der Bewegungsstiftung initiierte Konzept der BewegungsarbeiterInnen vor: Die Stiftung unterstützt Personen, die in Schlüsselpositio- nen einer Bewegung aktiv sind, bei der Suche nach Paten, die sie in ihrem Tun finanzieren. Die Gespräche, die Sundermann mit den BewegungsarbeiterInnen Cecile Lecomte, Jochen Stay und Hagen Kopp führte, kreisen auch darum, welche Spannungen solche Formen von Rollenausdifferenzierung in Bewegungen auslösen können.
Alexander Leistner (Leipzig), Vera Faust (Aachen)
Sonderschwerpunkt „Kümmerer – Motoren der Bürgergesellschaft“
Wie auch in den vergangenen Jahren dokumentiert das Forschungsjournal Soziale Bewegung das Forum Bürgergesellschaft der Stiftung Bürger für Bürger. Vom 26. bis 27. April 2013 trafen sich zum nunmehr achten Mal ausgewählte Expertinnen und Experten im Schloss Diedersdorf, um über aktuelle Entwicklungen im Bereich Bürgergesellschaft zu diskutieren. In diesem Jahr war das gemeinsame Thema „Kümmerer – Motoren der Bürgerge- sellschaft“. Im Mittelpunkt stand dabei die Frage, wie Kümmerer, also jene Menschen, die andere Menschen zu Engagement motivieren und sie dabei begleiten, gefördert werden können.
Neben einem Überblicksartikel, der die in der Diskussion vorgebrachten Argumente zusammenfasst, bietet die Dokumentation aus- gewählte Impulse, die den Auftakt der einzelnen Diskussionsrunden bildeten. Die Autorengruppe um Johanna Klatt zeigt, welche besonderen Charakteristika die in Stadtquartieren aktiven Viertelgestalter ausmachen, und welche Rahmenbedingungen sie benötigen, um erfolgreich zu agieren. Davon zu unterscheiden sind Kümmerer im ländlichen Raum. Lea Miram und Tobias Federwisch berichten über die Erfahrungen, die sie mit dem Projekt Dorfkümmerer gemacht haben. Das Projekt hat das Ziel, Menschen aus allen Bevölkerungsgrup- pen für sozialunternehmerisches Handeln zu gewinnen und damit zur Verbesserung der regionalen Erwerbssituation und der Bewältigung des demographischen Wandels beizutragen. Ralf Vandamme nimmt in seinem Beitrag die hauptamtlichen Kümmerer, vor allem die Fachkräfte für bürgerschaftliches Engagement innerhalb der Kommunalverwaltungen, in den Blick. Er zeigt, wie sich deren Rolle im Laufe der Jahre gewandelt hat und welche Herausforderungen dadurch bestehen. Karsten Speck und Oxana Ivanova-Chessex beleuchten die Rolle von Kümmerern in Verbänden und Vereinen.
Tobias Quednau (Berlin)