Ökologisch und sozial korrekt Einkaufen erfreut sich seit der Jahrtausendwende wachsender Beliebtheit und ebenso wächst die Zahl derjenigen, die das Netz nutzen, um am politischen Geschehen teilzuhaben. Die Schnittmenge beider Bereiche zu untersuchen, war das erklärte Ziel eines Forschungsprojekts an der Universität Siegen, das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft zwischen 2011 und 2015 gefördert wurde. Schon der Titel des Projekts postulierte, dass Bürgerkonsumenten auch als Online-Engagierte, also als gezielt konsumierende Internet Citizens, kurz als Consumer Netizens zu verstehen sind. Dort wo sich beide Entwicklungen bündeln, so die zentrale Vermutung, sollte etwas Drittes in besonderem Maße hervortreten, nämlich jener allgemeine Wandel bürgerschaftlichen Engagements, der in diesem Journal bereits mehrfach thematisiert wurde und der mit neuen Formen politischer Partizipation einhergeht, die projektförmiger, niedrigschwelliger, themen- und anlassbezogener sind, als die demgegenüber konventionell erscheinende Teilnahme an Straßenprotesten, ganz zu schweigen von der Mitarbeit in Parteien.
Dieses Heft bündelt erste Ergebnisse dieses Forschungsprojekts, bringt Arbeiten aus dem In- und Ausland zusammen, die – so die Hoffnung – eine Kernthese des Projekts plausibilisieren, nämlich dass dieses neue Engagement, das häufig mit Postdemokratie, minimaler oder simulativer Demokratie assoziiert wird, im Grunde als eine neue Politik der Lebensstile zu verstehen ist, dessen theoretische Erfassung, insbesondere die demokratietheoretische Einordnung erst noch aussteht. Methodisch gesehen basieren die hier vertretenen Stimmen auf Online-Umfragen (Forno, Baringhorst), Theoriearbeit (Lamla, Salomon), Medieninhaltsanalysen (Graham) und qualitativen Fallstudien (Witterhold, Rückert-John et al.). Auch jenen 26 Bürger_innen müssen wir dankbar sein, die mit uns das Wagnis eingegangen sind, eine bis dato in der Politikwissenschaft unbekannte Methode anzuwenden, nämlich das Partizipationstagebuch. Hierbei erklärten sich die Beteiligten bereit, acht Wochen lang über ihren Engagement-Alltag zu berichten (siehe Witterhold).
Doch stellt sich zunächst einmal die Frage, ob der politische Konsument im Netz überhaupt etwas Neues ist. Die Antwort lautet: Ja und Nein. Legt man ein zyklisches Verständnis der Geschichte politischen Konsums zugrunde, dann erleben wir heute bloß die Wiederkehr von Formen des Engagements, die schon in der Arbeiterbewegung thematisiert wurden (Salomon). Kaufen oder nicht Kaufen war eine Frage, deren Antworten zwischen Konflikt z.B. groß angelegten Boykott-Kampagnen gegen Unternehmen und Kooperation variierten (Teekampagne). In dieser Hinsicht reflektieren die vielen Anglizismen wie „sharing“ oder „peer-to-peer production“ (Baringhorst) nur etwas in Vergessenheit geratene alltagspolitische Praktiken der Neuen Sozialen Bewegungen und markieren heute eine empirische Abwendung von der theoretischen Idee, einsam getätigte Kaufentscheide seien analog zur Wahl mit dem Stimmzettel zu verstehen. Das Rad des Diskurses um politischen Konsum dreht sich weiter und hält neuerdings an altbekannter Stelle. Stricken ist wieder in; Öko-Dörfer innovativ (Rückert-John et al.); das Private politisch (Baringhorst). Statt gutes Tun durch Kaufen, statt Lifestyles of Health and Sustainability (Lohas) geht es um neue Freiheiten durch Reduzierung der Marktteilnahme, um Degrowth, oder wie ein Tagebuchschreiber es formulierte, um die Abkehr vom Primat „gib mir billig, gib mir viel“. Dass gerade im krisengebeutelten Südeuropa eine Wiederbesinnung auf Formen solidarischer Konsumgenossenschaften stattfindet (Forno), verstärkt den Eindruck einer neuen und zugleich altbekannten Entwicklung noch.
Gleichzeitig verdeutlichen die Beiträge durchaus originär neue Entwicklungen. Gerade an den netzbasierten, niedrigschwelligen und ebenso unverbindlichen Beteiligungsprojekten wie Carsharing oder Carrot Mobs (Rückert-John et al.) oder an den von Voss im Pulsschlag vorgestellten E-Petitionen wird dies sichtbar. Der Diskussion um das Social Web verdanken wir neue Vorstellungen von miteinander kooperierenden Bürger_innen, die vor allem nach persönlich nachvollziehbaren Problemlösungen suchen. Wie in Grahams Beitrag sichtbar wird, kreuzen sich die Wege politischer Konsument_innen nicht allein im Bioladen; vielmehr entstehen Räume zwischen Privatheit und Öffentlichkeit auch auf vermeintlich unpolitischen Websites, die teilweise überraschend offen für politisches Engagement sind. Sichtbar wird in den sich neu etablierenden Gewohnheiten der Mediennutzung, dass dabei bestehende Gender-Rollen durchbrochen werden. Weniger der über alles in Echtzeit informierte geek, sondern die sozial engagierte, mit sozialen Medien arbeitende Alltagskonsumentin schafft neue Fakten in Sachen Konsum (Witterhold). Hiervon ausgehend erscheint eine im deutschsprachigen Raum überfällige Re-Interpretation von Lifestyle Politics angebracht. Salomons Kritik weist zurecht auf die Schwierigkeiten eines Engagements der Besserverdienenden hin. Individualisierung des Engagements scheint aber durch Wohlstand und Bildung erst ermöglicht zu werden. Demgegenüber grenzten sich viele der von uns erforschten Bürger_innen vom erhobenen Öko-Zeigefinger mit akademischer Vorbildung ab. Was aus den Partizipationstagebüchern ersichtlich wird, untermauert eher, was Lance Bennett schon früh postulierte, nämlich dass Lifestyle Politics eher als Resultat von prekären Flexibilisierungen der Lebenslagen anzusehen ist. Es geht darum im Kleinen, wo es überhaupt möglich ist, wirksam zu werden, ohne dabei das Große, Ganze aus den Augen zu verlieren.
Sicherlich hat das Verkaufen gebrauchter Sachen auf Second-Hand-Portalen kaum Einfluss auf das Weltklima. Gleichwohl bringt es eine wachsende Ungeduld der Bürger_innen zum Ausdruck, denen die herkömmlichen Beteiligungsmöglichkeiten nicht mehr zielführend genug erscheinen. Vielleicht wird sich in dieser Hinsicht das neuerdings wieder stärkere Interesse für die auf Problemlösung fokussierende Demokratietheorie von John Dewey als wegweisend erweisen, lässt sich doch am Beitrag von Jörn Lamla ablesen, dass eine Wiederversammlung der politischen Gesellschaft denkbar ist und zwar schon in der partiellen Problematisierung transnationaler Wertschöpfungsketten, ohne eine weitere Absichtsbekundung der internationalen Staatengemeinschaft abzuwarten.
FJSB PLUS
In der Rubrik FJSB PLUS analysiert Martin Haselwanter den Verlauf, Ergebnisse und Folgewirkungen der unibrennt-Proteste 2009/2010, die ausgehend von Österreich an über 100 Universitätsstandorten zu Hörsaalbesetzungen führten,um für Verbesserungen der Studienbedingungen einzutreten. Außerdem schreibt Felix Manig über die afrikanische Bewegung AbahlalibaseMjondolo. Diese Bewegung besteht vor allem aus Bewohnern von Slums und anderer desolater Wohnsituationen und stellt sich vor allem gegen die Ungerechtigkeit und Perspektivlosigkeit, die in diesen Wohnsituationen herrscht.
Nicht zuletzt finden Sie in der Rubrik das komplette Programm der Tagung „Wenn Konzerne Protest managen…“, die am 26. September 2015 in Berlin im Rahmen der Linken Medienakademie stattfindet.
Mundo Yang, Sigrid Baringhorst (beide Siegen), Tobias Quednau (Berlin)